• Herr Balibar, ist Europa noch zu retten?






    Zum achten Mal finden am 25. Mai Wahlen zum Europaparlament statt, die ersten Wahlen, nachdem die EU in der Eurokrise knapp am Auseinanderbrechen vorbeischrammte. Ein Gespräch mit dem französischen Philosophen Étienne Balibar, der die Widersprüche der europäischen Integration immer wieder kritisiert, aber dabei stets für eine linke pro-europäische Position eintritt.










    Herr Balibar, was hat die Eurokrise aus Europa gemacht? Ist Europa noch zu retten?


    Die gegenwärtige Krise, die als globale Finanzkrise begann, und dann zu einer europäischen Banken- und Staatsschuldenkrise wurde, hat gezeigt, dass das europäische politische System nicht im Stande war, auf die wirtschaftliche Herausforderung demokratisch zu reagieren. Im Gegenteil, die Europäische Kommission und die europäische Zentralbank versuchten und versuchen, eine Art von autoritärer Legitimität außerhalb demokratischer Prozesse zu erzeugen und ihre Politik durch eine Revolution von Oben durchzusetzen. Zu deren Auswirkungen gehören die institutionellen Widersprüche der EU, die riesigen Diskrepanzen zwischen den verschiedenen Ländern der EU, und nicht zuletzt die gravierenden sozialen Auswirkungen der Politik, mit der versucht wird, der Krise Herr zu werden. Was früher die Teilung in Ost und West war, ist heute ein scharfer Abgrund zwischen Süd und Nord, zwischen Gläubigernationen und Schuldnerstaaten. Die Frage ist nur: Wie groß kann der Abgrund, das „Wohlstandsgefälle“ werden, ohne dass die EU auseinander bricht? Ich glaube nicht, dass diese Widersprüche mit dem derzeitigen politischen Instrumentarium Europas aufgelöst werden können.








    In der Krise hat sich Europa als brutale Maschine der Strukturanpassung erwiesen: In Griechenland, Italien, Spanien, sogar in Frankreich wird im Namen Europas umstrukturiert, privatisiert, werden Löhne gekürzt, Sozialleistungen beschnitten, Arbeitnehmerrechte wegreformiert...


    Ja, natürlich, aber das ist nur eine Seite der Medaille. Und wenn Sie ausschließlich auf diese eine Seite blicken, dann landen Sie unmittelbar bei dem sehr verbreiteten Anti-Europäismus, der - auf verstörende Weise – von Leuten auf der radikalen Linken und radikalen Rechten geteilt wird. Wir sollten diesen Aspekt - die EU als neoliberale Strukturanpassungsmaschine - auf keinen Fall verleugnen, aber wir müssen ihn in einen größeren Zusammenhang setzen, und die europäische Integration als historischen Prozess betrachten, um ihre inneren Widersprüche zu sehen.


    Was ist für Sie das Gefährliche an einer derart ‚einseitigen‘ Europakritik?


    Ich bestehe auf der Wichtigkeit einer globalen Perspektive, und weigere mich, mich zwischen dem blinden Verfechten des europäischen Projekts, vor allem wie es sich derzeit entwickelt, und einer rein anti-europäischen Position entscheiden zu müssen. Letztere spielt im Endeffekt dem Nationalismus in die Hände, den es heute in allen Ländern Europas gibt, und der eigentlich nur selbstzerstörerische Wirkung haben kann. Der Ausweg ist, darauf zu bestehen, dass es Alternativen gibt. Nun kann man sagen, dass diese Alternativen, die ich aufzeichne, sehr hypothetisch sind, oder davon abhängen, dass sich die sozialen und politischen Kräfteverhältnisse in Europa ändern, was im Moment nicht sehr wahrscheinlich ist. Und natürlich ist meine Sicht der Dinge eher pessimistisch, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass die Krise sich nicht verschlimmern wird.


    Was bedeutet das für die EU-Wahlen, die im Mai abgehalten werden sollen? Das Europäische Parlament hat ja seit dem Vertrag von Lissabon etwas mehr Mitspracherecht.


    In der Tat, das EU Parlament wird zum ersten Mal beim Präsidenten der EU-Kommission ein Veto haben und ich denke, dass das keine Nebensächlichkeit ist. So wie sich die Dinge heute darstellen, gibt es mehrere wahrscheinliche Szenarien: Einmal kann es natürlich sein, dass sich gar nichts ändert. In den letzen EU Wahlen gab es eine Tendenz sinkender Wahlbeteiligung, weil die WählerInnen eben nicht davon überzeugt waren, dass die Wahlen irgendwelche Auswirkungen haben können. Nun, diese Ansicht werden sie nicht ablegen, nur weil ein paar institutionelle Modifikationen angekündigt worden sind.


    Wie schätzen Sie den anti-europäischen Populismus ein ? Für das politische Establishment ist er eine Irritation, eine Herausforderung, die einerseits als irationell abgetan wird, aber andrerseits den Finger in die Wunde der EU legt.


    Ich denke, dass wir damit beginnen sollten, den sehr konfusen Begriff des „Populismus“ in Frage zu stellen. Viele Politiker und Politologen verwenden den Begriff im Wesentlichen dazu, eine Politik zu disqualifizieren, die die Massen mobilisiert und die Interessen der Armen vertritt, und um den Eindruck zu erzeugen, dass die „extreme Rechte“ und die „extreme Linke“ auswechselbar sind. Was grundfalsch ist. Aber natürlich kann die zunehmende Verzweiflung eines großen Teils der Bevölkerung zu einem Erstarken der extremen Rechten und des Nationalismus zu führen, wenn die Demokraten ihr nicht Ausdruck verleihen. Das lehrt uns auch die Geschichte.


    Die Linke tut sich damit schwer, eine EU-kritische und zugleich pro-europäische Position als überzeugende Alternative unter die Leute zu bringen. In Deutschland etwa betonen Teile der Linken die Natur der EU als neoliberal, militaristisch und undemokratisch, während die andere versuchte, eine zu rettende Idee Europas von der real existierenden EU abzuheben.


    Ich würde nicht abstreiten, dass die EU eine kapitalistische und imperialistische Konstruktion ist. Nur: Wo ist denn, in unserer Welt heute, eine Regierung, eine staatliche Institution, die keine kapitalistische und imperialistische Konstruktion wäre? Von welchem Standpunkt wird denn diese Kritik formuliert? Heißt das, dass der Nationalstaat in seiner derzeitigen Form weniger imperialistisch oder weniger ein Werkzeug der kapitalistischen Globalisierung als die EU wäre? Oder ist es von einer Warte aus gesprochen, die eine utopische, ganz andere Regierung herbeisehnt? Wenn ersteres der Fall ist, dann weise ich das vollkommen zurück. Ich sehe keinen Grund, warum wir die Nationalstaaten heute Europa vorziehen sollten, und ich sehe nicht, wie sie weniger vom globalen Finanzkapitalismus abhängig sein könnten, als die EU, vielleicht sogar eher mehr. Wenn zweiteres der Fall ist: Ja, ich verteidige die Idee, dass wir für radikale Veränderung eintreten müssen. Meine Position ist, dass wir auf allen Ebenen für diese Alternativen, diese revolutionäre Veränderung arbeiten müssen. Wenn wir die Idee aufgeben, dass die Alternativen nicht nur im Nationalstaat, sondern auch auf der transnationalen Ebene Europas realisiert werden sollen, dann begeben wir uns von Anfang an - angesichts der derzeitigen Herausforderungen ­- in eine Position absoluter Schwäche.


    Das heißt, Europa ist für Sie noch zu retten?


    Es ist fundamental für die Linke in Europa, nicht nur dem anti-europäischen Ressentiment zu widerstehen, sondern darüber hinaus konstruktiv zu sein, alternative Visionen und Vorschläge hervorzubringen, so kohärent und konsistent das eben möglich ist. Das ist auch einer der Gründe, weswegen ich mich freue, dass der Sprecher von Syriza, Alexis Tsipras, bei den EU Wahlen zumindest symbolisch als Spitzenkandidat der Europäischen Linken für die Präsidentschaft der Europäischen Kommission kandidiert: Radikal kritisch dem gegenüber, was die EU als Maschine der neoliberalen Strukturanpassung anrichtet, aber zugleich mit der Forderung nach politischen und institutionellen Veränderungen der europäischen Konstruktion, und nicht ihrer bloßen Auflösung oder Zerschlagung.


    Was halten Sie von Vorschlägen, die EU wieder zurückzubauen, gar den Euro zu verlassen?


    Ich glaube, dass die europäische Integration zumindest teilweise unumkehrbar ist, wegen der wechselseitigen Abhängigkeiten der verschiedenen Länder, ihrer Gesellschaften und Wirtschaften, weshalb ich sogenannte „souveränistische“, oder nationalistische Positionen für vollkommen abstrakt und ideologisch halte. Andrerseits ist mir natürlich klar, dass die EU als transnationales Gefüge trotzdem auseinanderbrechen kann. Nichts ist in völlig unerschütterlicher Form gebaut. Ich möchte einen Vergleich bemühen, der vielleicht nur auf den ersten Blick lächerlich wirkt, und zwar der zwischen Sowjetunion und Europäischer Union: Die SU und die EU sind nunmal die zwei Beispiele für transnationale Gefüge in Europa, die zu der Geschichte des 20. Jahrhunderts gehören. Beide wurden um ein ökonomisches Dogma herum aufgebaut, das wie ein politischer Mythos funktionierte: Im Fall der SU war das die Planwirtschaft, im Fall der EU ist es das neoliberale Dogma des allmächtigen Marktes ohne Beschränkungen. In beiden Fällen wurde und wird das ökonomische Dogma blind angewandt, was zu krisenhaften politischen Auswirkungen führt. Der Vergleich zeigt, wie schwierig es ist, eine supranationale politische Einheit aufzubauen, und dass, wenn ein zumindest teilweise irreversibler Einigungsprozess einmal vollzogen wurde, ein Kollaps zu katastrophalen Situationen führen kann.


    Sie haben vor kurzem in einem Artikel beleuchtet, wie in Europa ein deutscher Hegemon an die Stelle des traditionellen franko-deutschen Gespanns getreten ist, und haben prognostiziert „Es wird für lange Zeit eine deutsche Frage in Europa geben...“


    Ja. Sobald ich das geschrieben hatte, dachte ich, ich hätte hinzufügen sollen, und es wird eine französische Frage geben, eine italienische Frage, eine polnische Frage usw. Aber klar, von außen betrachtet, aus dem Süden Europas oder von Frankreichs Warte aus, ist die Hegemonie Deutschlands unverkennbar. Nicht nur, weil wir sehen, wie die französische Regierung mit allen Tricks versucht, entweder die Vormacht Deutschlands auszugleichen, oder wieder in das Führungstandem kooptiert zu werden. Etwa als Hollande versuchte, so was wie ein Gegengewicht in Europa aufzubauen, eine „Latino-Allianz“ mit Italien und Spanien, um zumindest für einen Moment der Sparpolitik zu wiederstehen, was bald gescheitert ist. Die Hegemonie ist also sehr sichtbar.


    Eine der Forderungen der Linken wäre die nach einem sozialen Europa, oder einem europäischen Sozialstaat. Davon sind wir derzeit weit entfernt.


    Allerdings. Die Idee des europäischen Sozialstaats, oder des „sozialen Europas“ ist seit vielen Jahren Teil der ideologischen Agenda der europäischen Integration, und hat dadurch an Glaubwürdigkeit eingebüßt, dass sich Europa davon entfernt hat, anstatt sie zu verwirklichen. Die Weichen hierfür wurden in den 1970ern und 1980ern gestellt, und am Ende ist von den zwei Säulen der Union (gemeinsame Währung und soziales Europa) nur die gemeinsame Währung übrig geblieben - die uns jetzt alle möglichen Probleme bereitet- , während das „soziale Europa“ im Stadium der Absichtserklärung verblieb. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass ein Europa ohne eine soziale Dimension der Wohlfahrt auf europäischem Niveau kollabieren wird.