• Gegen den Orientalismus im Ohr: Über Arabische Musik in Berlin

    Arabische Musik hat in Berlin keinen Ort: keine Akademie, keine Philharmonie, kein Konservatorium.

    (Erschienen in 128 - Magazin der Berliner Philharmoniker)


    In dem musikalischen Garten Berlins ist die arabische Musik eine Pflanze, die unerwartet wächst: Zwischen den anderen Sträuchern, am Rande der Beete geht sie auf, ein Gewächs aus herbeigewehten Samen, deren Nährstoff aber die Liebe zur Musik ist.
    Mohamed Askari ist ein solcher Musik-Liebender

    Seit mehr als 60 Jahren schon, seit er als kleiner Junge zum ersten Mal eine Flöte hörte, ist er auf der Suche nach Tönen, nach neuen Klängen. Er ist ein musikalisch Suchender, sein Instrument die Nay, die arabische Schilfrohrflöte.

    Askari ist Ägypter, er stammt aus bescheidenen Verhältnissen und ist gegen alle Widerstände Musiker geworden. Seine Familie, die zuerst in Unterägypten wohnt, in Luxor und Assuan, und später nach Suez zieht, wünscht sich, dass „etwas Richtiges“ aus ihm werde, auf jeden Fall aber kein Flötist: „Weil der Stellenwert eines Musikers damals niedrig war“, erzählt Askari, „ein Musiker, das war so etwas wie ein Bettler, ein Diener. Meine Eltern hörten gerne Musik, aber sie fragten sich: Warum muss ausgerechnet unser Sohn Musiker werden ...“

    Askari muss aber, er will es, seit er einem Straßenhändler begegnet, in Suez, der Schilfrohrflöten aus einem großen Sack zum Verkauf anbietet. An jeder Straßenecke bleibt er stehen, um ein paar Takte zu blasen. Als der kleine Mohamed ihn hört, will auch er sich für ein paar Piaster eine Flöte aus Pfahlrohr kaufen, eine Nay.

    Der Händler versucht ihm eine Tröte anzudrehen, weil die Nay zu schwer für ihn sei, aber er besteht darauf. Askari erzählt, als sei es gestern erst geschehen: „Eine ganze Woche habe ich probiert, immer und immer wieder, um einen Ton herauszubekommen, aber da kam nichts, nur Phlhhh, Phhlhh, ein schwaches Pusten.“

    „Also ging ich zum Verkäufer zurück, und beschwerte mich: „Du hast mir eine kaputte Flöte verkauft, die geht nicht!“ Er nahm sie in die Hand, und blies hinein, sie klang wunderbar.“ Also übt und übt Askari weiter, bis die Flöte endlich tönt.

    Heute ist er einer der bekanntesten arabischen Musiker Berlins. Er ist ein musikalisch Suchender, immer noch, und seine Musik das Ergebnis dieser unerschöpflichen Suche, oder besser: seines Umherwanderns in der Unerschöpflichkeit der Musik.

    „Als ich nach Berlin kam“, sagt Askari, im Jahr 1989 war das, „dachte ich mir, es wäre gut, wenn das deutsche Publikum auch mal etwas anderes als Bauchtanzmusik zu hören bekäme, nicht immer nur BRRRRR-KA-KA-KA, so lautes Getöse. Weil es ja auch eine ganz andere arabische Musik gibt, Kunstmusik, Kammermusik, zarter, nicht für große Veranstaltungen...“

    So begann Askari klassische arabische Musik in variierenden Konstellationen aufzuführen: Zuerst im Berliner Takht-Ensemble mit Nay, Geigen, Cello, Perkussion und Ud, dann im Trio Alwan mit Ud, Perkussion und Nay, oder, wie auf seiner jüngsten Platte, im Duett als „Abu Naimah“ mit dem Multiinstrumentalisten Beo Brockhausen.

    Nun steht arabische Musik, wie Askari sie spielt, in Berlin oft nicht selbst im Mittelpunkt, sondern ist Zusatz, Beiwerk, etwa als musikalische Untermalung bei einer Ausstellungseröffnung, einer Tagung, oder als Lokalkolorit im Ägyptischen Museum während der langen Nacht der Museen. Das Publikum dabei besteht zum Großteil aus Deutschen, für die arabischer Musik ein seltenes und ungewohntes Hörerlebnis ist. Viele finden es wahrscheinlich „stimmig“, wenn Askari in ägyptischer Kleidung auftritt.

    Von der Musik allein zu leben, ist deshalb schwierig; doch Askari ist es zufrieden. Für ihn ist das Musikmachen noch immer nicht Mittel zum Zweck, um Geld zu verdienen oder Ruhm zu ernten, sondern er will mit Musikern spielen, die „Musik aus Idealismus“ machen.

    So hat auch seine Karriere als auftretender Musiker angefangen: Er wird, noch als Heranwachsender in Ägypten, engagiert, auf einer Hochzeit zu spielen, weil man gehört hat, dass er mit Freunden Musik macht, aber er will kein Geld nehmen. Musik für Geld zu spielen, das würde ihn die Nähe jener Musiker rücken, die, Musikanten eigentlich, ihre Kunst gegen Bezahlung „prostituieren“. Wahre Musiker spielen aus Liebe zur Musik, aus „Idealismus“.

    Askari verkörpert Musik als Berufung, nicht als Beruf. Und Berufung ist ein zähes Kraut, sie wächst und treibt Blüten, allen widrigen Umständen zum Trotz.

    Doch zugleich steht eine solche Lebensweise von Musik der Professionalisierung entgegen, der Tradierung, der Institutionalisierung. Askaris Traum, der Aufbau eines Konservatoriums für arabische Musik in Berlin, ist Traum geblieben.

    Arabische Musik hat noch immer keinen Ort, aber sie wächst in den Zwischenräumen, zwischen den anderen Gewächsen.

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    Marwan al-Karjousli musiziert in solchen Zwischenräumen.

    Karjousli spielt die arabische Kurzhalslaute, die Ud: Spielt sie für sich, für andere, für das Spielen selbst.

    Am Donnerstag tritt er in der Komischen Oper auf, am Samstag in einem arabischen Restaurant, und wann immer es sich sonst noch ausgeht mit seiner Band Al Sahra.

    Karjousli ist Syrer, er kommt aus Damaskus. Deutsch spricht er nur bruchstückhaft, aber über jedes fehlende Wort setzt er sich mit einem Lächeln, einer lächelnden Geste hinweg.

    „Ich wusste schon immer, dass ich Ud spielen kann“, sagt Karjousli. Also hat er es sich selbst beigebracht, sobald er alt genug war, um sich eine Ud von seinem Taschengeld zu kaufen.

    Studiert hat er nicht Musik, sondern Malerei, er ist beides zugleich, Musiker und Maler, und will sich weder für das eine noch das andere entscheiden müssen. Dann hat ihn die Liebe nach Berlin gebracht, und Musik und Malerei sind ihm gefolgt.

    Hier spielt er das ganz Alte, nämlich Monteverdis Oper Odysseus („Il ritorno d’Ulisse in patria“) in Barrie Koskys Inszenierung in der Komischen Oper. Und er spielt das Neue, Schräge, noch Werdende, Gnawa-Rockabilly-Oud-Folk, in der Berliner Band Al Sahra.

    Monteverdi auf der Ud, das ist eigentlich überraschend naheliegend, ist doch die Ud die nächste Verwandte jener Instrumente, für die Monteverdi komponierte: Die Laute, oder die Theorbe, der „Chitarrone“. Für Karjousli ist es ein Höhepunkt seiner Karriere als Musiker, er genießt die Zusammenarbeit mit den anderen Musikern, mit dem Dirigenten, die völlige Konzentration auf die Musik. Und er ist stolz, dass er über jene Meisterschaft im Improvisieren verfügt, die Monteverdi noch bei seinen Musikern voraussetzte (und in seiner Oper L’Orfeo auch notierte): jene Bereitschaft, zu einem Thema, einer Tonart, aus dem Stegreif neue Töne zu suchen und zu finden.

    Karjousli improvisiert in der Komischen Oper, und er improvisiert in der Band Al Sahra, in einem eigentlich unmöglichen Mix aus Rockabilly, Balkan und arabischer Musik. Die Band gibt es noch nicht lange, und bei einem Konzert in der Neuköllner Werkstatt der Kulturen zeigt sich, welche Spannung sie vereint.

    Ihr Sänger Brane Al Gin klingt hartgesotten-sentimental-verkatert, wie man sich einen jungen Berliner Johnny Cash vorstellen mag. Die Ud und die Darabukka des Perkussionisten Rabee Khuzam streben in Richtung arabischer Musik, während der Kontrabass, die Gitarre und der Gesang dagegen stehen und auf dem Rockabilly-Songformat beharren.

    Im Konzert soll sich beides unterhalten, doch während des Spielens überwächst die arabische Musik allmählich den Rest. Und bei jedem Zwischenspiel wird es deutlicher, dass das Publikum, durch die Macht des Beifalls und der tanzenden Körper allein, nach einem Mehr an arabischer Musik verlangt. Am Ende verlassen die anderen Musiker bis auf den Perkussionisten die Bühne, Karjousli spielt jetzt arabische Lieder: Seine Ud improvisiert, sie klagt und sie klimpert, sie erfüllt einen Raum und schafft einen Ort, allein mit der Kraft ihres Klangs.

    Im Publikum tanzt auch eine Gruppe junger Syrer. Nach Syrien können sie nicht mehr zurück, genau wie die Musik, die keinen Ort mehr hat, zu dem sie heimkehren könnte. Damaskus liegt in Trümmern, und als Karjousli ein Lied von Fairouz anstimmt, „Nassam aleyna el Hawa“, ist Wehmut zu spüren. Er singt, „ich fürchte mich, mein Herz, in der Ferne zu bleiben, da meine Heimat mich nicht mehr kennen wird, oh bring mich, bring mich, bring mich nach Hause.“

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    Wenn Farhan Sabbagh läuft, dann schlendert er ein bisschen, und seine Arme schwingen, als flanierte er.

    Farhan Sabbagh verkörpert arabische Musik als Weltläufigkeit, als Virtuosentum. Er spielt die Ud, die Laute, mit leicht anmutender Konzentration und ernster Innigkeit.

    Sabbagh ist ein ganz anderer Typus Musiker als Askari oder Karjousli. Er ist kein Autodidakt, kein Auswanderer, sondern Spross einer syrischen Musikerfamilie: Sein Großonkel Tawfiq al-Sabbagh war ein bekannter Komponist, Sufimeister, Musiktheoretiker und Perkussionist, sein Vater ein Udvirtuose. Sabbagh selbst ist ausgebildeter Lautenist auf der Ud und Perkussionist auf der Riqq, er hat in Homs, Damaskus und Kairo studiert, und ist preisgekrönter Komponist.

    Sabbagh spielt arabische Musik ohne fliegende Teppiche oder Geschichten aus 1001 Nacht, ohne anbiedernde Vereinfachung oder Selbstorientalisierung: Er spielt so, dass die Musik, das Hörerlebnis im Vordergrund steht; so, dass die Hörenden, so bald sie sich einmal auf das einlassen, was sie hier hören, musik-immanent gepackt, bewegt werden, berührt.

    Seine Ud, birnenförmig und bundlos, kennt die mannigfaltigen Maqamat, die arabischen Tonarten, in denen sie spielen kann. Und sie übt sich im Taqsim, dem Improvisieren, das von einem Maqam ausgeht, und dann auf den Saiten auf und nieder wandelt, läuft und singt, spontan hier verweilend, dort insistierend, wie es dem Lautenisten im Augenblick gefällt.

    Sabbagh musste nicht nach Berlin kommen, aber er hat sich dafür entschieden, „der größeren Möglichkeit wegen, sich für andere Musikkulturen zu öffnen“, sagt er. Sabbagh ist Gast des Internationalen Instituts für Vergleichende Musikstudien (später Institut für traditionelle Musik), einmal, zweimal wird er nach Berlin eingeladen, bis er das dritte Mal im Jahr 1981 bleibt, bis heute.

    Bei arabischer Musik wie der von Sabbagh an Bauchtanz zu denken, das wäre so, als reduzierte man die westliche klassische Musik auf den Wiener Walzer. Und Sabbagh ächzt noch immer über die Bauchtanzwelle, die über Berlin in den 1980ern hinweggerollt sei: Die arabische Musik interessiert damals die wenigsten, sie muss nur „richtig“ klingen, den Erwartungen der Zuhörenden entsprechen, laut sein und tanzbar.

    Sabbagh indes lässt sich nicht beirren, er gibt Konzerte für akademische Musiker und Musikologen, in Schulen oder im Haus der Kulturen der Welt, gastiert in Solo-Auftritten in der ganzen Welt. In Berlin spielt er in Ensembles für arabische, sephardische oder zeitgenössische Musik, und ist mehrmals in der Berliner Philharmonie zu Gast.

    Wenn, überspitzt formuliert, unter Askaris Zuhörern manch einer für „den Orient“ schwärmt, während Karjouslis Publikum wehmütig an die syrische Heimat denkt, dann spielt Sabbagh für jene Musikliebhaber, die sich für außereuropäische, und insbesondere arabische Musik begeistern.

    Doch es gibt in Berlin noch ein weiteres, ganz anderes Publikum arabischer Musik.

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    Eine Musik-Kneipe in Berlin-Neukölln: Bänke und Stühle scheinen selbst gezimmert, das Publikum sitzt dicht gedrängt, an Bierflaschen nippend. Eine Ein-Raum-Wohnzimmer-Hipster-Bar. Doch als das Konzert beginnt, kehrt kammermusikalische Stille ein, und konzentrierte Neugier darauf, wie diese Musik klingen mag: Es musiziert Nawa, ein Ensemble für klassische arabische und türkische Musik.

    Nawa spielen erst kapellenmäßig unisono, dann jazz-artig improvisierend, manchmal rasend schnell über Dritteltöne laufend, und schließlich getragen singend: Die Ud (Nadim Sarrouh) führt das Ensemble an, es antworten die Nay, eine Schilfrohrflöte (Valentina Bellanova), die Geige (Penelope Gkika), die verschiedenen Varianten arabischer Perkussion (Amir Czwink) und der Kontrabass (Adam Goodwin).

    Nadim Sarrouh, der Lautenist, ist Berliner, er ist Kampfsportler, und er hat sich vor bloß fünf Jahren entschieden, Udspieler zu werden.

    „In der Wohnung meiner Eltern lag eine arabische Laute herum, die niemand spielte“, sagt Sarrouh, „wie in so vielen arabischen Haushalten. Einmal lüftete meine Mutter das Zimmer, als es bitterkalt war, und plötzlich gab es einen großen Knall: durch die Kälte war eine Saite gerissen. Ich war damals sowieso schon auf der Suche nach einer Möglichkeit, mich mit arabischer Musik zu beschäftigen. Also habe ich in dem Moment beschlossen: Dieses Instrument werde ich jetzt spielen.“ Sarrouh sucht einen Lehrer, und wird Schüler von Farhan Sabbagh.

    Er wolle den Reichtum arabischer Musik mit dem Berliner Publikum teilen, sagt Sarrouh, „die unheimliche Lebendigkeit der traditionellen arabischen Kompositionen, die durch verschnörkelte Verzierungen entsteht“. Aber auch hier, in der Neuköllner Kneipe, vor einem jungen Publikum, ist arabische und türkische Musik, Kammermusik zumal, vielen fremd. Auch hier müssen erst Hörhindernisse aus dem Weg geräumt werden, bis das Publikum sich in die Musik selbst hineinhören kann.

    Nawa gehen vor jedem Stück ein paar Schritte auf das Publikum zu, wenn Sarrouh und Czwink eine Besonderheit des zu Hörenden andeuten: Welche Art des Stückes es sei, in welchem Maqam geschrieben, wer es komponiert habe. Das ist nicht bildungsbürgerlich, sondern erlaubt den Zuhörenden, Nuancen zu erfahren, und mehr und genauer zu hören, als sie es sonst könnten.

    Bewusst vermeidet Sarrouh und sein Nawa Ensemble alles „Orientalische“ in ihrem Auftreten, sie wollen kein Klischee die Musik verdecken lassen. Das ermöglicht ein ganz anderes Musikerlebnis als jenes, bei dem die Hörenden vor allem anderen darauf warten, dass das Gehörte ihre Erwartungen erfüllt: Einlöst, wie „Orientalisches“ in der Musik zu klingen habe.

    Die orientalische Musik muss erst den Orientalismus, den imaginierten Orient im Ohr, umschiffen, überlisten, damit sie gehört werden kann. Doch für die, die sie spielen, ist arabische Musik nicht „orientalisch“, nicht exotisch. Sie ist einfach nur Musik.

    Am Ende treibt arabische Musik wohlklingende Blüten und gedeiht, zwischen den anderen musikalischen Gewächsen, auch hier in Berlin. Und sie findet überall dort einen Ort, wo sie auf neugierig Hörende trifft.