• Vormals sicher verwahrt



    Vor fünf Jahren musste in Berlin ein Dutzend Häftlinge aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden. Verbrecher, die als extrem gefährlich und rückfallgefährdet galten. Mit ihrer Resozialisierung ist der Stadt ein kleines Wunder gelungen



















    (Erschienen im Tagesspiegel)






















































    Gutachter und Gerichte waren sich einig: Frank Peters* sei gefährlich, befanden sie, gewalttätig und unverbesserlich. Weshalb er weggesperrt gehöre, in Sicherungsverwahrung, am besten für immer.

    Heute verabredet sich Frank Peters im Café und trinkt entspannt seinen Latte wie all die anderen um ihn auch. Muskelbepackt, braungebrannt und rasiert sitzt er da, den V-Rücken ins knappe T-Shirt gepresst. Seine Tätowierungen bedecken beide Arme bis zur Schulter mit schwarz geritzten Zeichnungen: einst Teil einer Knastuniform, Fantasie-Orden eines Gefängnisgenerals. Heute fällt er damit in Berlin nicht mehr groß auf.

    Peters ist Anfang 50, seit fünf Jahren wieder frei. Erster Eindruck: Typ harte Schale, einen versuchten Mord und einen Totschlag in der Akte. Einer der erzählt von seinem „Stand“ im Knast, vom Hauen und Stechen unter den Gefangenen, die über einen wie Wölfe herfielen, wenn man sich nicht wehre. Aber auch: Typ weicher Kern. Als seine Freundin ihn später im Café abholen will, schicken sie sich verliebt Luftküsse hin- und her.

    Peters saß in Sicherungsverwahrung (SV), weil ein Gutachter ihn für gefährlich erklärt hatte, für rückfallgefährdet und nicht entlassbar. Doch dann entschied im Dezember 2009 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass es nicht rechtens sei, ihn länger einzusperren. Die rückwirkende Verlängerung der Sicherungsverwahrung - von vormals zehn Jahren auf unbegrenzte Zeit - sei genauso menschenrechtswidrig wie die nachträgliche SV, also wenn die „Haft nach der Haft“ nicht schon mit dem Urteil, sondern erst nach Verbüßung der Gefängnisstrafe verhängt wird.

    Peters und elf weitere Häftlinge, der jüngste 42, der älteste 78 Jahre alt, mussten in Berlin zwischen Februar 2011 und Anfang 2012 entlassen werden. Ein „Skandalurteil“ für manche. Groß war die Aufregung, noch größer die Verunsicherung. „So gefährlich sind die sieben Schwerverbrecher, die Berlin jetzt freilassen muss“, schrieb die „Bild“-Zeitung damals, und präsentierte die ersten sieben zu Entlassenden mit Kurzbiografien, ihre Vorstrafen katalogisiert: Der Frauenmörder. Der Mädchenschänder. Der Sex-Täter. Der Vergewaltiger. Der Totschläger. Der Würger. Der Kinder-Jäger.

    Und dann?

    Hat man von den Entlassenen nicht mehr viel gehört. Einer von ihnen ist ziemlich schnell rückfällig geworden, hat im Suff eine Geldtasche geklaut und jemanden getreten. Er sitzt seitdem wieder im Knast. Vier sind inzwischen gestorben. Doch die anderen leben unauffällig ihr Leben in Freiheit. Bei vielen ist jetzt selbst schon die fünfjährige Führungsaufsicht zu Ende.

    Bedeutet das also, dass Peters und die anderen Entlassenen geläutert, bessere Menschen geworden sind? Oder heißt das, dass sie gar nicht so gefährlich waren, wie ihnen Gutachter und Gerichte immer und immer wieder attestiert hatten? Oder sollte es Berlin wirklich gelungen sein, das Rückfallrisiko dieser Kindermörder und Gewaltverbrecher drastisch zu senken - durch die Vorbereitung der Entlassungen, die Therapien und anfängliche Überwachung? Dann wäre den Behörden etwas Unerhörtes geglückt.

    Tatjana Voß, die Leiterin der Forensisch-Therapeutischen Ambulanz der Charité, hat die zwölf Männer begleitet, hat sie analysiert, betreut und überwacht, „forensisch rehabilitiert“, nennt sie das. Voß, mittellange braune Haare, Brille, sitzt in ihrem Büro in einem Backsteinhaus gleich neben der Justizvollzugsanstalt Tegel und lächelt freundlich, sie könnte auch als Gymnasiallehrerin durchgehen. Die Psychiaterin sieht jeden Tag in menschliche Abgründe. Aber sie schafft es, dass ihr dabei der Mensch um den Abgrund herum nicht aus dem Blick gerät.

    Tatjana Voß sagt: „Es gab schon einen sehr großen politischen Willen, das gemeinsam hinzubekommen.“ Alle Beteiligten hätten sich regelmäßig getroffen, und ein in Deutschland bislang beispielloses Projekt aufgebaut, unter Federführung der Senatsverwaltung für Justiz, der Führungsaufsichtstelle, des Landeskriminalamts (LKA) und der Forensisch-Therapeutischen Ambulanz. „Da wurde sehr viel Personal und Zeit investiert und zusammen überlegt: Was braucht der Mensch? So entstand dann ein Bild des Einzelnen mit seinen Stärken und seinen Schwächen.“ Dazu kam, dass Voß und ihr Team acht Monate Zeit hatten, um die Entlassungen vorzubereiten, und mit den SVlern ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. „Es gab Männer, die das Angebot dankbar aufgenommen haben“, sagt Voß, „und andere, die mich aus dem Haftraum wieder rausgeschmissen haben, gesagt haben, das passiert eh nicht, gehen Sie mir fort mit Ihrem Therapiekram.“

    Auch Frank Peters glaubte nicht daran, dass man ihn tatsächlich entlassen würde: „Zuerst bist du die Bestie, der Schlimmste von überall, den man nie wieder rauslassen wollte, und dann setzen sie dich vor die Tür.“

    Nach und nach ist es Tatjana Voß doch gelungen, mit allen ins Gespräch zu kommen. „Vielleicht weil ich eine Frau bin, weil ich Ärztin bin, weil ich sage, ich unterstütze Sie, wir reden nicht über Ihre Delikte.“ Stattdessen fragte sie, wie sich die SVler das Leben in Freiheit vorstellen würden, was sie arbeiten, ob sie alleine wohnen wollen oder in einer WG. „Klar, man war am Anfang ein bisschen bange, wenn man die Akten gelesen hatte, aber wenn man dann davor saß, waren es eben keine Monster. Sie haben schreckliche Taten begangen, aber es sind Menschen.“

    Menschen, die Jahrzehnte hinter Gittern verbracht hatten. Und nun kam auf einmal Frau Voß, und suchte nach Stärken, nach Lebenszielen, arbeitete mit Empathie, mit Lob und Anerkennung für jeden noch so kleinen Erfolg. In einer Studie schreiben die Therapeuten über Entlassungen: „Dies ist bei langjährig untergebrachten Patienten kein leichtes Unterfangen und dafür oft umso wirksamer.“

    Und umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, wie sehr manche der zwölf zu Entlassenden in der Haft verwahrlost waren. Einer von ihnen, Günther Hauk, hatte mehr als 40 Jahre im Gefängnis gesessen, nachdem er in den 60ern eine Bekannte erwürgt und dann während eines Hafturlaubs in den 70ern eine weitere Frau und ihren Sohn getötet hatte. Nach 14 Jahren in Sicherungsverwahrung, ohne Perspektive, jemals wieder freizukommen, verließ er seine Zelle auch am Tage nicht mehr, rasierte sich nicht mehr, wusch sich nicht mehr.

    Selbst ihn hat das Berliner Projekt wieder eingegliedert. Am Ende habe er, der dreifache Totschläger, in seinem Zimmer im Altenheim gesessen, so erzählt es eine seiner Betreuerinnen, in dem gemütlichen roten Sessel, den er sich von der Haftentschädigung gekauft hatte, und habe zufrieden gesagt: „Mensch, ich sterbe in Freiheit!“ Nur zwei Jahre nach seiner Entlassung hatte man ihn aus der Obhut seiner Therapeuten entlassen und ihm beschieden: „Herr Hauk, Sie sind gut angekommen, alle kennen Sie, alle mögen Sie, Sie nehmen an der Singgruppe teil, Ihre Enkeltochter kommt Sie besuchen: Wir lassen Sie von jetzt an in Ruhe.“ Günther Hauk ist dann wirklich im Altersheim gestorben.

    Frank Peters lebt jetzt seit fünf Jahren außerhalb der Gefängnismauern, ohne dass er sich etwas hat zuschulden kommen lassen. Er ist angekommen in seinem neuen Leben, auch wenn es am Anfang nicht leicht war. Zum Beispiel vor dem Arbeitsamt, da hatte er ein bisschen „Panik“ vor: „So mehr aus dem Fernsehen, ich dachte mir: Wie soll ich mit dem Arbeitsamt klarkommen, wenn schon die Leute draußen manchmal durchdrehen?“

    War aber dann in echt viel unproblematischer als im TV, und drei Wochen später hatte er einen Job gefunden. „Im Knast haben die ja nur darauf gewartet, und gesagt, das kann nicht gut gehen.“ Es ging aber gut, und es geht, bis heute, gut. Peters hat Arbeit, hat eine Wohnung, er hat mit dem Alkohol Schluss gemacht und lebt seit mehreren Jahren in einer Beziehung. Damit das auch so bleibt, besteht sein Anwalt darauf, dass Frank Peters anonym bleiben kann.

    Die Sicherungsverwahrung, die Haft nach der Haft, schon in den 20ern diskutiert als Ersatz für die Todesstrafe, und eingeführt im November 1933 durch das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher“, ist das schärfste Instrument des Strafrechts überhaupt.

    In Berlin waren es im Jahr 2015 insgesamt 44 Menschen, die „sicher verwahrt“ wurden. Weil man ihnen nach Paragraf 66 Strafgesetzbuch einen „Hang“ attestiert hatte, „zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden“.

    Wem ein solcher Hang bescheinigt wird, der kann auf Jahrzehnte weggesperrt werden. Auch das kostet: 139 Euro zahlt Berlin für jeden einzelnen Hafttag eines SVlers. Dieser wird erst dann entlassen, wenn seine Gefährlichkeit nachgelassen hat. Beides, sowohl die Gefährlichkeit als auch ihr Abklingen, muss von forensisch-psychiatrischen Gutachtern festgestellt werden, deren Prognose in den meisten Fällen als Grundlage für die Gerichtsentscheidung dient.

    Natürlich gehört gutachterlicher Mut dazu, zu sagen: Herr X. ist harmlos, lasst ihn gehen! Wenn man nicht hundertprozentig sicher sein kann. Und sollte Herr X. sich an neuen Opfern vergehen, dann würde ja der Gutachter als Erster an den Pranger gestellt.

    Bei den zwölf Entlassenen in Berlin hatte kein einziger Häftling eine positive Prognose. Trotzdem gab es bei zehn von ihnen laut Therapeuten „eine - angesichts der jeweiligen Vorgeschichte - erstaunlich problemlose Integration“.

    Lag es an den Therapiestunden, dass die Resozialisierung so gut funktioniert hat? Oder daran, dass die Männer so alt und von der Haft so zermürbt waren, dass sie gar nicht mehr imstande waren, Verbrechen zu begehen? Lag es an Tatjana Voß, die, als einer der Entlassenen, verzweifelt und zur Freiheit nicht mehr fähig, wieder eingesperrt werden wollte, sich hinstellte und sagte: „Das geht leider nicht, Sie sind jetzt frei. Und Sie schaffen das!“

    Das erste Jahr in Freiheit gilt als das kritischste, da geschehen die meisten Rückfälle. Das Risiko gilt als geringer, solange die Ex-Häftlinge in einem Heim oder betreuten Wohnprojekt leben. Die Ex-SVler mit einer „klaren Störung der Sexualpräferenz“ wurden zusätzlich medikamentös behandelt. Manche kommen bis heute freiwillig zu den Therapeuten, andere setzen ihre Behandlung beim Hausarzt fort. Dass dies auch ohne Aufsicht geschieht, zählt zum Restrisiko. Denn es ist ja nicht so, dass es bei den „Langzeitlern“ nicht zu Rückfällen kommt. In Berlin wurden während der Zeit, als die zwölf Männer nach den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte freikamen, noch 15 andere Sicherungsverwahrte regulär entlassen. Drei davon wurden rückfällig, wenn auch mit Delikten, die alleine die Sicherungsverwahrung nicht rechtfertigen würden: eine Schlägerei, ein Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz, eine gefährliche Körperverletzung. Und in Düsseldorf, im Jahr 2011, missbrauchte ein Sexualstraftäter, der aus der Sicherungsverwahrung kam, nach sechs Monaten ein Mädchen; da war seine Überwachung durch die Polizei bereits gelockert worden, weil er als „kooperativ und vertrauenswürdig“ galt.

    Der Kriminologe Michael Alex hat in einer Studie die Rückfallquote anhand von 131 Gefangenen erforscht, bei denen Gutachter die Sicherungsverwahrung gefordert hatten, sie aber wegen der Urteile der höchsten Gerichte nicht mehr verhängt werden konnte. Sein Ergebnis: Bei unvorbereitet Entlassenen ohne Nachsorge gibt es eine Rückfallquote von ungefähr 15 Prozent. Das heißt, dass die meisten Sicherungsverwahrten zu Unrecht für immer weggeschlossen bleiben. „Sie werden mit den 15 Prozent über den gleichen Kamm geschoren.“

    Entscheidend für einen Rückfall sei der „soziale Empfangsraum“, in den der Entlassene zurückkehre. „Den aber kann der Gutachter im Knast ja überhaupt nicht beurteilen.“ Der damals erzwungene Berliner Modellversuch habe gezeigt, „dass das Risiko viel geringer ist, und praktisch auf null reduziert werden kann, wenn die Entlassenen nur entsprechend begleitet werden“.

    Auch Frank Peters musste nach seiner Entlassung einmal die Woche zur Forensisch-Therapeutischen Ambulanz, Alkohol- und Drogenkontrolle, außerdem gab es für ihn gleich zwei Bewährungshelfer bei der Führungsaufsicht, und einmal im Monat musste er im LKA vorsprechen.

    Überwachung und Unterstützung, Mentoring und Monitoring - davon hatte Peters allerdings bald die Schnauze voll. „Als würde ich mit dem Messer mang die Zähne auf die Straße rennen und die Leute abstechen!“ Zumal er Arbeit hatte und sich nicht jedes Mal freinehmen konnte, um von einem Therapeutentermin zum nächsten Behördentermin zu tingeln.

    Hätten die Gutachter und Gerichte ahnen können, dass Peters sich in den ersten fünf Jahren so entwickeln würde? Einer dieser Gutachter ist Hans-Ludwig Kröber, Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie an der Charité und einer der prominentesten Kriminalprognostiker Deutschlands. Er hatte mehrere der Berliner Entlassenen schon begutachtet, als sie noch in der SV saßen, und sie danach in Freiheit mit betreut. Waren seine vormaligen Gutachten, die den Verwahrten eine fortwährende Gefährlichkeit attestiert hatten, falsch?

    Zumindest habe ihn der Berliner Modellversuch überrascht, sagt Kröber. Er habe zuvor nicht geglaubt, dass es so gut laufen würde. „Wir haben mit hoher Geschwindigkeit ein Helfer- und Kontrollnetz um die zu Entlassenden gebaut“, sagt der Psychiater, und es habe sich gezeigt, dass bei diesen Männern - mit einem ganz erheblichen Aufwand an auch aufsuchender Betreuung und Krisenintervention - „relevante kriminelle Rückfälle“ verhindert werden konnten, sofern keine massive Alkoholproblematik vorlag. „Das Ganze war aber alles andere als ein Spaziergang.“

    Kröber sagt selbst, er habe durch das Modellprojekt „viel dazugelernt“, nicht nur über die Nachsorge von Entlassenen, sondern für Prognosegutachten von Straftätern überhaupt. Vor allem dies: Maßnahmen innerhalb des Vollzugs schafften allenfalls, das Rückfallrisiko von 100 auf 50 Prozent zu senken. Es auf nahe null zu bringen, schaffe nur „eine engagierte ambulante Weiterbetreuung über mehrere Jahre“. Man müsste also vorher wissen, ob es draußen eine Einrichtung geben wird, die jemandem wie Frank Peters dabei hilft, „die Füße stillzuhalten“, wie Peters das selber nennt, auch wenn es vorher „nicht meine Art war“. Und Menschen, die ihm helfen, lebenslang vom Alkohol die Finger zu lassen.

    Dann kommt Peters Freundin, um ihn nach dem Interview im Café abzuholen. Er sei ein ganz Lieber, sagt sie, nett und allen gegenüber zur Hilfe bereit. Und vielleicht jetzt einfach endlich erwachsen geworden.

    Stolz ist sie auf ihn, und darauf, dass er auf sich selbst stolz sein kann.



    * Namen der Ex-Häftlinge geändert