• An der Obergrenze

    Seit Jahren gibt es hier schon kein Zollhaus mehr, am Brennerpass, mitten in den Alpen. Nun will Österreich wieder einen Zaun errichten. Der soll die Flüchtlinge fernhalten - aber er entzweit Europa








    Erschienen im Tagesspiegel



    Am Brenner soll jetzt ein Zaun gebaut werden, ein „Grenzmanagement-Leitsystem“ auf Behörden-Österreichisch. Als hätten die ankommenden Flüchtlinge nicht schon genug mit dem Tiroler Dialekt, dem noch liegenden Schnee und der ganzen Ungeheiztheit rundherum zu kämpfen.



    Der Brennerpass, dieser abgebrochene Zahn mitten im Alpenhauptkamm, ist die wichtigste Nord-Süd-Verbindung über die Alpen und der meistbefahrene Pass zwischen Italien und Österreich. An der Straße aufgefädelt stehen Bahnhof, Gasthaus, Kirche, Shoppingcenter. Autos, Züge, Lkw donnern vorbei, links und rechts steile Hänge, darüber Berggipfel.



    Wird jetzt das vereinte Europa hier begraben, werden neue Grenzen, Zäune, Mauern hochgezogen? Wird der Brenner am Ende zur nächsten Station eines zerfallenden und sich abschottenden Europas: ein Calais in den Alpen, ein Idomeni in Tirol?



    Am Brennerpass musste noch jeder vorbei, der nach Italien wollte: Römer, Goten, Vandalen; deutsche Kaiser, deutsche Dichter, deutsche Soldaten und deutsche Urlauber, der Brenner hat sie alle gesehen. In umgekehrter Richtung zogen italienische Gastarbeiter vorbei, Oktoberfestbesucher, Flüchtlinge.



    Der Zaun, den man hier plant, gilt allein Letzteren: Weil die österreichische Regierung zusammen mit neun Balkanstaaten die Westbalkanroute geschlossen hat, stellt sie sich nun darauf ein, dass spätestens ab dem Frühsommer wieder verstärkt Flüchtende über Italien nach Norden zu reisen versuchen werden. Hauptreisezeit ist auch Hauptfluchtzeit.



    Jetzt, Ende April, ist die Lage am Brennerpass ruhig, bis auf den tosenden Geräuschabfall des Personen- und Güterverkehrs: das Rauschen des Gebirgsbachs, übertönt vom Rauschen der Autobahn, akzentuiert vom Quietschen der Züge, gemischt mit den endlosen Fahrplanansagen.



    Ruhig ist es hier auch, weil das Dorf Brenner langsam stirbt, seit es die Grenze nicht mehr gibt. Früher, so erzählt man sich, als noch keine Zollunion war, Österreich noch nicht in der EU, früher hätten die Geschäfte am Brenner ihre Tageseinnahmen in italienischen Lire in Plastiktüten zur Bank getragen. Jetzt wohnen hier noch kaum mehr als 300 Menschen. Wer kann, geht weg; wer kommt, der tut es, weil die Wohnungen spottbillig sind, nicht weil er hier Zukunftsperspektiven vermutet.



    Das Kleidergeschäft an der Ecke hatte früher 14 Angestellte, dann tat der Chef sich schwer, allein davon zu leben. Jetzt hat er zugemacht. Die Grenzer und die Soldaten, die hier früher die Staatsgrenze schützten, sind fast alle abgezogen, der Brenner ist zum multikulturellen Einwanderungsdorf geworden: Die größte Gemeinde nach italienisch- und deutschsprachigen Südtirolern sind jetzt solche mit pakistanischen Wurzeln.



    So wie Abdul, ein feingliedriger junger Mann, in Brixen geboren und seit 13 Jahren am Brenner. Er schmeißt den Imbiss gegenüber vom Bahnhof und fühlt sich am Brenner wohl. Vielleicht wäre es für seinen Laden gar nicht so schlecht, wenn die Grenze wieder zu wäre, aber er mag es sich nicht wünschen. Sein Herz ist dagegen, Zäune zu bauen. Wer flüchten muss, tut ihm leid; wer fahren will, soll fahren können.



    An diesem späten Vormittag, die Sonne wärmt, der Schnee schmilzt trotzdem nicht, kauft sich am Bahnhof nur ein junger, leicht hinkender Somalier von seinen letzten zehn Euro eine Fahrkarte nach Innsbruck. Doch weit kommt er nicht, die Österreicher schicken schon jetzt immer mehr Flüchtlinge wieder zurück. Am Tag darauf kann man ihn sehen, wie er es von Neuem nach Innsbruck versucht, diesmal zu Fuß zusammen mit drei bunt verschleierten Frauen über die Staatsstraße am alten Zollhaus vorbei. Was wird er machen, wenn hier ein Zaun steht?



    Die österreichische Regierung sieht sich am Limit ihrer Kapazitäten, logistisch wie auch politisch. Die beschlossene Obergrenze von 37 500 Asylbewerbern für das Jahr 2016 wurde zwar in zwei Rechtsgutachten für völkerrechts- und verfassungswidrig befunden, weil Österreich nicht einfach ab einer gewissen Zahl von Asylanträgen deren Prüfung einstellen könne. Doch sie bleibt politisch nach wie vor erklärtes Ziel.



    Dies umso mehr, als der Regierung unter dem Sozialdemokraten Werner Faymann und der christdemokratischen ÖVP die offen ausländerfeindliche „Daham-statt-Islam“-Partei FPÖ im Nacken sitzt. Nachdem deren Kandidat Norbert Hofer nun die erste Runde der Präsidentschaftswahlen gewann, ist ein Sieg des Rechtspopulisten im zweiten Durchgang im Mai gut möglich. Dem Land droht ein noch gewaltigerer Rechtsruck. Die Asyl-Obergrenze ist der bislang erfolglose Versuch, den Aufstieg der Rechten aufzuhalten, indem man ihre Forderungen übernimmt.



    Am Brenner zeigt sich nun: Eine Obergrenze muss nicht zwangsläufig zum Schießbefehl führen; wohl aber zum Maschendrahtzaun, zur Grenze reloaded. Italienische Zeitungen schreiben vom „muro del Brennero“, der Brenner-Mauer, und empören sich, Europa werde hier begraben. Manche fürchten allerdings weniger den ideellen Schaden als vielmehr den Umstand, dass dann alle in Italien ankommenden Geflüchteten eben dort festsitzen würden.



    Die Bäckerin an der Hauptstraße hat von der ganzen Aufregung schon jetzt genug. Das italienische Fernsehen sei mehrmals hier gewesen, der Österreicher auch. „Jetzt interessieren sich auf einmal alle für uns“, sagt sie, „früher war das hier das letzte Eck.“



    Seit dem Ersten Weltkrieg verläuft am Brennerpass die Staatsgrenze zwischen Italien und Österreich, zugleich zwischen dem Nord- und Südteil Tirols. Als harte Grenze zuerst, mit Zöllnern, Soldaten und Polizisten. Später wurde die immer durchlässigere Brennergrenze zum Symbol für ein immer enger zusammenrückendes Europa. 1994 verschwanden die Zollschranken, 1998 die Passkontrollen. Das Abbauen des Schlagbaums wurde als symbolische Großtat gefeiert, Sternstunde Europas.



    Tatsächlich ist die Grenze hier fast unsichtbar geworden. Man schlendert zum Pizzaessen auf die eine Seite, fährt zum Tanken auf die andere, ohne dass man die Grenzüberschreitung bemerken würde. Ein junger Schulabbrecher, Spitzname Rambo, sitzt mit seinen Kumpels vor der Brenner Bahnhofsbar, erzählt, er sei hier aufgewachsen und in seinem 19-jährigen Leben noch nie an der Grenze angehalten oder kontrolliert worden.



    Der alte Grenzstein ist mehr Sehenswürdigkeit denn Souveränitätsmarkierung. Im ehemaligen österreichischen Zollhaus gibt es nun Lederhosen und Tiroler Hüte zu kaufen. Geht man raus aus dem Laden, ein paar Schritte über die Straße, ist man schon in Italien. Unmittelbar vor dem Geschäft, quer über die Straße und dann steil zum Wald hinauf, verläuft seit Freitag vergangener Woche eine grellgelb auf den Asphalt gesprühte Markierung. Es ist die Vorbereitung für den Zaunbau. Am heutigen Mittwoch sollte mit den Arbeiten für Steher und Fundamente begonnen werden, sodass ein Zaun jederzeit „eingehängt“ werden kann. Gestern aber kündigte die Landespolizeidirektion Tirol an, der Zaunbau sei einstweilen angehalten, bis sich der österreichische Innenminister Wolfgang Sobotka am Donnerstag oder Freitag dieser Woche mit seinem italienischen Amtskollegen Alfano getroffen habe. Es ist ein Zugeständnis an die symbolische Wucht, die dieser Zaunbau entfaltet hat.



    Am Brenner können sich nur wenige vorstellen, dass die Grenze einfach so wiederaufgebaut werden kann. Der Wirt der Bar Brenner, vis-à-vis vom Bahnhof, 500 Meter vom geplanten Grenzzaun, findet das Ganze mächtig schlecht fürs Geschäft: „Man sieht hier nichts, man kriegt nichts mit, es gibt keinen Zaun! Aber die Leute bekommen ja schon Angst, wenn sie nur die Zeitung lesen.“ Grenzkontrollen findet er richtig, „aber die Grenze zumachen, das kann sich Österreich nicht leisten: Die würden ja aushungern.“



    Dabei hält Österreich mit seiner Absicht nicht hinter dem Berg; eher bezieht es noch die Berge in eben diese mit ein. Eine Mauer steht ja schon hier, links und rechts, aus Glimmerschiefer und Gneisen: die Ostalpen. Und ein Gipfel nicht weit entfernt trägt den Namen „Hoher Zaun“. Auch wenn es offiziell noch heißt, das „Aktivieren des Grenzmanagements“, das „Einhängen des Zaunes“ werde nur erfolgen, wenn es dafür Bedarf gebe, wenn es nötig sei, weil keine europäische Lösung existiere, wenn die Zahl der aus Italien nach Norden reisenden Flüchtlinge wieder ansteige, wenn Italien nicht die nötigen Maßnahmen ergreife, um die Flüchtlinge aufzuhalten, bevor sie überhaupt zum Brenner kommen. Aber wenn, dann. Dann wäre man gerüstet.



    Bis Mitte Mai war es hier auch im vergangenen Jahr ruhig, bis die Flüchtlingszahlen über Nacht stark anstiegen und dann den ganzen Sommer hindurch 200, 300 und mehr Menschen am Tag ankamen. Am Ende haben alle nur noch improvisiert.



    Weil Österreich eine Wiederholung auf jeden Fall vermeiden will, hat man beschlossen, am Brenner eine Infrastruktur des „Grenzmanagements“ zu errichten: eine Kontrollstation aus Zaun und Zelt, dazwischen ein Leitsystem, durch das die Ankommenden an einer Registrierungsstelle vorbeigeschleust werden.



    Einreise oder Zurückweisung, die Abfertigung soll im Schnelldurchlauf erfolgen, dazu würden die Ankommenden sich wegen der gewundenen Bahnen ständig in Bewegung befinden und nicht das Gefühl des Stillstands bekommen. Bis sie dann, immer noch in Bewegung, am anderen Ende des Grenzmanagements ausgespuckt werden, mit dem Bescheid, ihr Asyl anderswo, jedenfalls nicht hier, zu suchen.



    Auf dem Parkplatz hinter dem alten Zollhaus, wo die Registrierungsstelle gebaut werden soll, steht jetzt noch ein Schild, „Fluchtweg freihalten“. Das wird man dann wohl wegräumen.



    Überhaupt „Grenzmanagement“. Ein Name mit guten Aussichten auf den Titel als Unwort des Jahres. Lenkwerkzeug von Flüchtlingsströmen, Schalthebel der Menschen-Logistik. Rechtlich flankiert wird der Maschendraht mit einer Notverordnung, die das österreichische Parlament am Mittwoch beschließen soll: die „Sonderbestimmung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit während der Durchführung von Grenzkontrollen“, mit der die österreichische Regierung sich ermächtigt, einen Notstand zu erklären, und das Recht auf Asyl, wie es bisher galt, faktisch abzuschaffen.



    Ab 1. Juni 2016 können dann, wenn es die Regierung für notwendig erachtet und die von ihr festgesetzte Obergrenze von Asylbewerbern erreicht ist, alle weiteren zurückgewiesen werden, sofern sie nicht schwanger, minderjährig und unbegleitet sind oder mit jemandem verwandt oder verheiratet, der bereits in Österreich Schutz genießt. Oder in Italien von Folter oder Abschiebung bedroht sind, und dies auch im Schnellverfahren glaubhaft gemacht werden kann. Alle anderen, so heißt es bei der Baubesprechung für den Grenzzaun, würden entweder wieder auf die Straße gestellt oder „dem Italiener“ übergeben, wenn dieser sich denn dazu bereit erkläre. Das wisse man aber noch nicht. Tatsächlich prescht Österreich einseitig vor, in Bezug auf eine Grenze, die doch per Definition eine zweiseitige Angelegenheit ist.



    Simon Schieferer, Geschäftsführer des Rosenberger-Autobahn-Restaurants auf der gegenüberliegenden Talseite, ist nicht erfreut: Das Grenzmanagement sei auch für ihn „eine Reise ins Ungewisse“. Seine Raststätte, die an der Stelle der alten österreichischen Autobahngrenzstation gebaut wurde, muss die Sommersaison mit halbiertem Parkplatz angehen. Weil sich die Republik Österreich die andere Hälfte für eine Inspektionsstelle der nach Österreich reisenden Autos und Lastwagen reserviert hat. Gerade werden dort die Leitplanken der Autobahn weggeflext, damit das Fundament für ein Dach, Ausweichroute, Kontrollstation gebaut werden kann. „Vierspurig wird man dann hier im Stau stehen“, meint Schieferer, „wer kommt da noch zu uns herein?“



    Dabei ist man am Brenner den Stau wahrlich gewöhnt, vor allem an jenen Wochenenden im Sommer, wenn gefühlte halbe Bundesländer sich auf den Weg machen, nach Rimini, an den Gardasee, auf die Berge in Südtirol. Das Rosenberger ist so gebaut, als sei die Grenze für immer ein Ding der Vergangenheit: Drinnen hängen wandgroße Fotografien der Grenznostalgie, Polaroids der Zeitgeschichte. Wo früher die italienische Grenzstation, der Schlagbaum, die Zöllner standen, wird jetzt Kaffee serviert, die Salatbar bestückt. Toilettenbesuch 50 Cent.



    Widerstand regt sich indes auch am Brenner. Am vergangenen Sonntag fordern Demonstranten ein Niederreißen der Grenzen und verlangen zugleich, man müsse sich jetzt entscheiden, auf welcher Seite man stehe.



    Eine Verkäuferin eines der Geschäfte erzählt, sie habe an der Zaunbaustelle zugesehen, wie da gemessen wurde und markiert und kartografiert, die Staatsgrenze bis auf den Zentimeter genau von der Karte auf die Wirklichkeit übertragen, und dann ein Grenzschild aufgestellt, als Markierungspunkt. In einem unbemerkten Augenblick sei sie vorbeigegangen und habe das Schild mit dem Fuß verschoben. Österreich hat gut zehn Zentimeter Territorium eingebüßt, ein geschrumpftes Land seitdem.