• Der Tag, als Benno Ohnesorg starb

    Studenten protestieren in Berlin gegen den Schah-Besuch, dann eskaliert die Lage. Am Ende liegt einer blutend am Boden, mit einer Polizeikugel im Kopf. Vier Zeitzeugen rekonstruieren den 2. Juni 1967



    Der Anruf aus dem Krankenhaus erreicht den SDS, Kurfürstendamm 140, abends zwischen 22 und 23 Uhr: „Ich wollte Ihnen mitteilen“, sagt der Anrufer, ohne sich vorzustellen, „dass gerade ein deutscher Student verstorben ist.“

    Es ist der 2. Juni 1967, am Apparat im Zentrum des Sozialistischen Demokratischen Studentenbundes ist Tilman Fichter, damals 29, heute 79. Ein „Spätberufener“: Zuerst Schiffsjunge und Weltenbummler, dann Abitur und Studium, schließlich Berliner Landesvorsitzender des SDS, gerade als dieser die Speerspitze der außerparlamentarischen Opposition ist.

    Der Anrufer habe geklungen wie ein gut deutsch sprechender Iraner, höflich, förmlich, „aber nicht um Beifall heischend“. Ein Arzt, des Farsi mächtig, zum Dienst eingeteilt, vermutet Fichter, weil man in Berlin ein Attentat auf Mohammad Reza Pahlavi, den Schah, befürchtet.

    Je mehr man reinzoomt in diesen Tag, wie in eine alte Fotografie, je feinkörniger man hineintaucht ins Schwarz-Weiß, das damals Farbe war, desto weniger ergibt Sinn, was davon übrig bleibt.

    Ein Student, der reglos am Boden liegt: Geboren in Hannover am 15. Oktober 1940, gestorben, erschossen, am 2. Juni 1967 in Berlin. Ein Student, schlaksig, im roten Hemd und schmalen Ledersandalen. Ein Student, der bis dahin jemand war, etwas war: werdender Vater, frisch verheiratet, ausgebildeter Schaufensterdekorateur, Pazifist, mehr Protestant denn Protestierer, Student der Germanistik, Verfasser von Gedichten unter Pseudonym, angehender Lehrer. Und der jetzt nur mehr der ist, der am 2. Juni erschossen wurde.

    Nur: Ist Geschichte nicht vielleicht immer so? Eine Verkettung unglücklicher, verhängnisvoller, irrer Zufälle?

    Die Geschichte, oder das Verhängnis, das wir „Geschichte“ nennen, nimmt ihren Ausgang Jahre zuvor in Teheran. 1964, vielleicht schon 1963, die Quellen widersprechen sich, kommt Hans Magnus Enzensberger, Lyriker, Essayist, Anfang 30, aber schon Büchner-Preisträger, auf Lesereise ins Teheraner Goethe-Institut. Von den älteren Mitarbeitern kennt ihn niemand, also soll ein junger iranischer Germanist und Gegner des Schah-Regimes ihn vorstellen: Bahman Nirumand, der in Deutschland studiert hat und am Goethe-Institut arbeitet.

    Nirumand, heute 80, damals 30 Jahre alt, erst vom Schah aus seinem Land vertrieben und dann vom Ayatollah-Regime noch einmal, erinnert sich. Spricht langsam, und sieht doch seinem früheren Ich sehr ähnlich, dem Ich auf den 50 Jahre alten Fotos, schwarz-weiß, mit Brille und Jackett. Enzensberger, erzählt Nirumand, habe nach der Lesung in Teheran gesagt: „Es gibt noch einen Empfang für mich. Können Sie etwas tun, dass ich da wegkomme?“

    Die beiden entweichen, diskutieren bis zum Morgengrauen, reisen gemeinsam nach Isfahan, freunden sich an. Enzensberger schlägt vor, Nirumand solle ein Buch schreiben über die Zustände im Iran, den Bündnispartner des Westens: über die Unterdrückung, den Polizeistaat, die Verfolgung der Studenten. „Ich sollte Unterlagen besorgen, Daten, Material, er würde sich nach einem Verlag umsehen. Ein paar Monate später lud er mich nach Norwegen ein, da sagte er: Fang an zu schreiben, den Verlag habe ich schon organisiert.“

    Und Nirumand schreibt. Sein Buch wird heißen: „Persien, Modell eines Entwicklungslandes, oder: Die Diktatur der Freien Welt“. Es erscheint im Januar 1967 bei Rowohlt, mit einem Nachwort von Enzensberger. Und es verkauft sich, auch deshalb, weil bald nach Erscheinen ein Staatsbesuch des Schahs angekündigt wird: Ende Mai soll er West-Deutschland und dann auch West-Berlin besuchen.

    „Die iranische Regierung hat versucht, das Buch zu verhindern“, sagt Nirumand. „Und als der Schah-Besuch feststand, haben sie den Druck erhöht, gesagt, es sei ein unfreundlicher Akt. Die deutsche Regierung hat auf die Freiheit der Presse verwiesen, man könne das Buch nicht verbieten.“
    
Als der AStA an der Freien Universität für den Vorabend des Schahbesuchs eine Veranstaltung ansetzte, mit Nirumand als Redner, habe die Botschaft sogar mit der Absage des Schah-Besuchs gedroht. Der Berliner Senat bat darum, die Sache zu verschieben, der Rektor der FU sah dazu keinen Grund. „Das ging auch in der Presse wochenlang hin und her“, sagt Nirumand, „eine wunderbare Reklame für mein Buch.“

    
Auch der Student im roten Hemd, den schmalen Ledersandalen, der schlaksige, frisch verheiratete angehende Lehrer besaß das Buch und las es, sagt Nirumand, das habe er vor Kurzem erfahren. Schrieb seitenweise Notizen hinein, unterstrich Passagen, war am Abend des 1. Juni selbst im Audimax der FU, als Nirumand sprach. 2000 füllen den Raum, sitzen auf den Rängen, auf dem Boden, rauchen, klatschen. Nirumand sagt, er habe eine sachliche Rede vorbereitet: „Aber als ich da reinging, kam ich fast nicht zum Rednerpult, weil so viele Leute da waren. Ich wurde empfangen, als ob ich Che Guevara wäre! Und nach zehn Minuten merkte ich, mein Vortrag ist zu sachlich für das aufgeputschte Publikum, also habe ich frei gesprochen.“

    
Am Ende skandiert man „Mo-Mo-Mossadegh!“, nach dem Premierminister, der Irans Erdölindustrie verstaatlicht hatte und 1953 in einem von den USA und Großbritannien gestützten Militärputsch gestürzt wurde. Dann ruft man dazu auf, am nächsten Tag, dem 2. Juni, gegen den Besuch des Schahs zu demonstrieren: vormittags vor dem Schöneberger Rathaus, abends vor der neuen Deutschen Oper, wo der Schah die Zauberflöte sehen soll.

    Der 2. Juni 1967, das ist sechs Jahre nach dem Mauerbau, 22 nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, ein Frühsommertag, 22,4 Grad, relative Luftfeuchtigkeit 55 Prozent. Damals in Farbe, was heute schwarz-weiß und fremd ist. Befreundet sein heißt, bis zum Morgengrauen zu diskutieren. Und wenn ein Paar nach 22 Uhr unverheiratet erwischt wird, riskiert die Vermieterin eine Anzeige wegen Kuppelei.

    Der 2. Juni, das ist die Stimme von Sandie Shaw, acht Wochen lang die Nummer eins in den deutschen Charts, „Like A Puppet On A String“. Eher Kinderlied denn Popsong, aber die Stimme so schmetternd und stirnfransig keck, so absichtslos und voll Verheißung und Swinging Sixties: „I wonder if one day that, you’ll say that, you care / If you say you love me madly, I’ll gladly, be there/ Like a puppet on a stri-i-i-ing.“

    
Der 2. Juni, das ist, im Verlaufsbericht der Berliner Schutzpolizei:
    – 11.13 Uhr Ankunft des Kaiserpaares auf dem Flughafen Tempelhof, ca. 700 Schaulustige.
    – 11.21 Uhr Abfahrt der Kolonne zum Hotel Berlin-Hilton. Entlang der Fahrstrecke ca. 12 000 Schaulustige. Vor dem Rathaus Kreuzberg einzelne Pfiffe.
    – 11.45 Uhr Vor dem Rathaus Schöneberg 1500–2000 Schaulustige. Spruchbänder mit folgendem Inhalt: „Schluss mit der Folterung politischer Gefangener“, „Welcome Mr. Diktator“, „M ö r d e r“, „Iranische Studenten grüßen den Schah“, „Wir grüßen unser Kaiserpaar in Berlin“.

    
Siegward Lönnendonker ist 77, damals 27, Soziologe, Alt-68er, obwohl: Alt-67er müsste es heißen. Mit Günter-Grass-Schnurrbart, wachen Augen, für einen Scherz zu haben, eigentlich schon darauf wartend, danach suchend, Selbstbeschreibung „aktiver Rentner“, zitiert Fritz Teufel, dann Helge Schneider. Etwas an ihm deutet darauf hin, dass er ein Genussmensch sein muss, empfänglich für das Schöne, den Jazz, die Frauen, die progressive Politik, als diese noch die Zukunft war. Lönnendonker ist das lebende Gedächtnis der Studentenbewegung und des SDS, er ist der APO-Archivar, heute ehrenamtlicher Mitarbeiter im Archiv der Freien Universität.

    „Der SDS“, sagt Lönnendonker, „war eigentlich null interessiert am Schah. Der Schah, das war ’ne Sache für die Klatschpresse, für die ,Kristall’, wo über Soraya berichtet wurde, die keine Kinder kriegen konnte, und über die neue Frau, Farah Diba.“ Vor dem 2. Juni hatte der SDS in Berlin nur ein paar hundert Mitglieder, dafür umso größere Ziele: „Wir wollten die Universitätsreform, klar, aber wir wollten auch Frieden in Vietnam, wir wollten ein Ende der Apartheidspolitik in Südafrika, ein Ende der Notstandsgesetze und eine Beschränkung der Macht des Springerkonzerns.“
    
Für den SDS sei 1967 Vietnam das große Thema gewesen, sagt Lönnendonker, man sammelte für den Vietcong, plante für den 3. Juni eine große Anti-Kriegs-Demonstration, der Schah-Besuch störte da nur, lenkte ab, wo man Kräfte bündeln wollte.

    
„Der Nirumand“, erzählt Lönnendonker, ja, jener Nirumand, der Enzensberger in Teheran kennenlernte und nun Vorsitzender der iranischen Studenten war, „ist verzweifelt rumgelaufen, und hat versucht, beim SDS Unterstützung für Proteste gegen den Schah zu kriegen. Das hat niemanden interessiert, bis dann am Ende die Kommune 1 gesagt hat: O.k, wir machen mit.“ Mitmachen, das bedeutete dadaistische Happenings, ein „Steckbrief“-Plakat gegen den Schah („gesucht“ wegen Mordes, verfasst von Peter Schneider), und „Schahtüten“ aus Papier, mit einer Karikatur drauf und zwei Löchern drin zum Durchgucken.

    
„Dass wir doch zum Schöneberger Rathaus gekommen sind, in einiger Zahl, ist darauf zurückzuführen, dass drei Straßen weiter das Institut für Politische Wissenschaft war, in der Babelsberger Straße. Da haben wir gesagt: Der Schah ist ja hier ganz um die Ecke, gehen wir da mal hin.“

    Um zehn, halb elf sei man los, die Badensche Straße runter bis zum Rathaus, sagt Lönnendonker. „Da waren ganz wenig Leute, von dem Platz war vielleicht ein Zehntel besetzt, ganz gemischt, Studenten, aber auch alte Mütterchen, Soraya-Fans, die gerne dem Schah zugejubelt hätten.“
    – Gegen 12.00 Uhr ertönen einzelne Sprechchöre, und es werden iranische Fähnchen geschwenkt.
    – 12.07 Uhr Abfahrt des Schah vom Hotel Berlin-Hilton zum Rathaus Schöneberg. Vor dem Hotel ca. 800 Schaulustige, einzelne Pfiffe sind zu hören.
    – 12.17 Uhr Ankunft Rathaus Schöneberg.

    Lönnendonker steht also da und wartet, „und dann kam auch schon der Schah, gleich darauf die zwei oder drei Busse mit den Savak-Leuten, dem iranischen Geheimdienst, die wir damals natürlich nicht als Savak-Leute erkannt hatten. Jubel-Perser nannten wir die, wir dachten, vielleicht sind das auch Studenten.“ Als der Schah eintraf, rief man „Buuh“, dann „Mo-Mo-Mossadegh!“, schließlich „Mossadegh, Schah muss weg!“. Es sei „nicht weiter aufregend“ gewesen. „Angeheizt wurde die Sache erst durch die Savak-Leute, die nahmen dann ihre Knüppel, erst hatten sie ihre Poster da dran, dann machten sie die Poster ab und versuchten, mit den Latten auf uns einzudreschen. Wir waren völlig perplex, als die auf einmal ankamen.“

    Die Studenten waren es nicht gewohnt, auf einer Demonstration angegriffen zu werden, erst recht nicht von Geheimdienstleuten eines ausländischen Machthabers. Man sieht die Überraschung noch in den Gesichtern, das Rufen nach einem Eingreifen der Polizei. Die kam dann auch, mit ihren Pferden. „Wir haben zuerst applaudiert“, sagt Lönnendonker, „haben Bravo gerufen, weil wir dachten, die Polizei würde jetzt für Ordnung sorgen und die Jubelperser zurückdrängen. Und dann sind sie gegen uns vorgegangen!“

    
Das Ganze dauerte nur wenige Minuten, ging ohne nennenswerte Verletzungen zu Ende, doch bleibt ein Riss, ein Spuk, ein Unerhörtes, das die Bilder wie in einem Loop festhält und immer wieder von Neuem wiederholt. Das eine Flut von Fragen, von Empörung, von Untersuchungsausschussberichten nach sich zieht: Wer war es, der den iranischen Geheimdienst hier zuerst platziert hat und dann gewähren lässt? Was war es: ein polizeiliches Missgeschick? Taktik? Autoritäre Tendenzen, noch immer, oder schon wieder, in der West-Berliner Polizei?

    „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns, und wer gegen uns ist, gehört in den Osten, der hat bei uns nichts zu suchen – so einfach war das Feindbild damals“, sagt Hartmut Moldenhauer, genannt Molli, heute 75, leitender Polizeidirektor im Ruhestand, damals 25, Kommissarsanwärter. Selbst erst mit 18 aus der DDR nach West-Berlin gelangt, Flüchtlingsaufnahmeverfahren, dann Polizeischule. „Das heißt aber, die Studenten waren keine Demonstranten, nicht nur für die Bevölkerung, sondern auch für die Polizei, das waren Kommunisten.“ Ein innerer Feind in der Berliner Enklave, umgeben vom größeren äußeren Feind rundherum.
    
Auch Moldenhauer trägt Günter-Grass-Schnurrbart, auch er ist Archivar, als ehrenamtlicher Mitarbeiter der Polizeihistorischen Sammlung in Berlin. Meterweise Akten der Schutzpolizei zum 2. Juni, gefunden in einem Keller des Polizeipräsidiums, hat er vor einem Brandschutzbevollmächtigten gerettet, der sie entsorgen wollte, hat sie durchforstet, katalogisiert, zugänglich gemacht.

    
Moldenhauer selbst ist am 2. Juni mit seinem Kommissarsanwärterlehrgang eingeteilt, zuerst nachmittags entlang der Wegstrecke der Stadtrundfahrt des „Kaiserpaares“ – der Verlaufsbericht der Polizei verzeichnet „im Bereich Kurfürstendamm an der Joachimsthaler Straße vereinzelte Buhrufe“ –, dann ab halb sechs vor der Deutschen Oper in der Bismarckstraße.

    
Als Moldenhauer eintrifft, sammeln sich die Studenten schon auf der südlichen, dem Haupteingang der Oper gegenüberliegenden Straßenseite, in einem schmalen, abgesperrten Schlauch zwischen Bauzaun und Hamburger Reitern, weil sie auf den anderen Gehwegseiten nicht weiterkommen. Es sind erst ein paar hundert Leute, darunter „durchaus auch ältere Damen, die nur die Schahbanuh, also Farah Diba, sehen wollten“.

    
– 19 Uhr Vor der Oper ca. 100 Personen mit Plakaten und Spruchbändern. Ecke Kantstraße/Kaiser- Friedrich-Straße wird ein Pkw mit „Steckbriefen“ des Schah gestellt. Die 6 Insassen, darunter Herr Enzensberger mit Frau, werden festgenommen. Herr E. hatte ein mit Farbe gefülltes Ei in der Hosentasche.

    
Der „Herr E.“ aus dem Polizeibericht ist Ulrich Enzensberger, Mitglied der Kommune 1 und Bruder jenes E., mit dem, so kann man sagen, die Sache in Teheran begonnen hat. Zur Oper schafft es hingegen Tilman Fichter, jener Fichter, der später am Abend den Anruf aus dem Krankenhaus entgegennehmen wird. Er fährt im Taxi zur Oper, „das erste Mal in Berlin mit der Taxe überhaupt“, um nicht zu spät zu kommen, weil er noch seine Mutter zum Flughafen bringen muss.

    Tilman Fichter, der „Spätberufene“, spricht noch heute von Dutschke als „dem Rudi“. War dann, viel später, im SPD-Parteivorstand, spricht noch heute von Brandt als „dem Willy“. Hat keine Ähnlichkeit mit Günter Grass, trägt dafür Hornbrille und eine Brecht’sche Joppe, eine Art Mao-Janker aus den Alpen.
    „Wir sind an der Oper vorgefahren, die Polizei war noch ganz freundlich“, sagt Fichter. „Man ließ uns durch, direkt gegenüber vom Haupteingang rein in den Schlauch. Die Stimmung war am Anfang ganz harmlos und nett, wie das bei so Studententreffen immer ist: Aha, du bist ja auch da!“

    Die Demonstranten und Schaulustigen stehen dicht gedrängt auf der südlichen Gehwegseite der Bismarckstraße, blicken auf die Front der Deutschen Oper, gebaut 1961 und erstaunlich plump, ohne jede Eleganz, die Fassade ein riesig hingeklatschter Betonklotz, der erst zur Seite hin leicht und luftig wird.

    Fichter, seine Kommilitoninnen und Kommilitonen trennen von den Berliner Honoratioren, die vor der Oper vorfahren, zwei je fünfspurige Fahrbahnhälften und ein Mittelstreifen. Kommissarsanwärter Moldenhauer, genannt Molli, steht auf der gegenüberliegenden Seite, in der letzten Sicherungskette vor dem Opernhaupteingang.

    In dem Raum zwischen beiden ereignet sich innerhalb kürzester Zeit, zwischen 19.20 Uhr und 20.30 Uhr, eine Entgleisung des staatlichen Gewaltmonopols, eine rasende Zuspitzung: Das Verhängnis nimmt seinen Schnelldurchlauf.

    Doch noch ist davon nichts zu sehen. „Die Polizei stand zunächst ziemlich locker“, sagt Moldenhauer, „mit ziemlichen Abständen, die Sonne schien, es war ein wunderschöner Tag, Kaiserwetter im wahrsten Sinne des Wortes.“

    Halb links gegenüber der Oper steht die Kommune 1, Langhans, Teufel, Kunzelmann, vielleicht 30 Leute insgesamt, „aber die dürfen Sie sich nicht vorstellen als einen militärischen Faktor, sondern mehr so wie eine lärmende Hippie-Schose“, sagt Fichter. „Mit Rainer Langhans, der sich in Pose geworfen hatte, damit ihn die Weltpresse fotografieren konnte. Die haben dann auch Eier geworfen, und Steine, drei, vier, fünf vielleicht.“

    Eine Gefahr für den Schah sei von der Kommune 1 nicht ausgegangen: „Das war eine Provokation, aber eben in der dadaistischen Tradition, in der die damals unterwegs waren, für die war die Gaudi ebenso wichtig wie die Inhalte.“

    Kommissarsanwärter Moldenhauer beobachtet von der anderen Straßenseite, wie sich die Lage „mehr und mehr hochschaukelt“, zunächst gab es Sprechchöre, „dann fuhren auf unserer Seite die Honoratioren vor, da nahmen die Missfallensbekundungen auf der anderen Seite entsprechend zu, dann flogen erst mal Papierknäuel, dann flogen Tomaten, dann flogen Farbeier, und ganz zum Schluss flogen noch Steine.“

    "Einem Fotografen, der gerade seine Ariflex aufmacht, um den Film zu wechseln, klatscht ein Ei rein. Ein Polizist wird von einem Stein am Kopf getroffen, er rennt quer über die jetzt schon gesperrte Fahrbahn, schreit vor Schmerz, das Blut läuft ihm am Gesicht herunter."

    
– 19.52 Uhr Krawalle und Handgreiflichkeiten vor der Oper.
    – 20.07 Uhr Anhalten der Krawalle vor der Oper.

    
Tilman Fichter sieht „kleine Polizeistoßtrupps, die in die Demonstration reingetrieben wurden, die zogen einzelne Leute raus und schlugen sie exemplarisch zusammen, darunter auch Leute, mit denen ich befreundet war. Da war Weisenborn, der junge Weisenborn, den haben sie rausgezogen und fast totgeschlagen.“ Fichter meint auch, dass „die Polizisten, die vor uns standen, teilweise völlig überrascht waren über ihre Kollegen, die wussten gar nicht, was das soll“.

    „Verletzte unter den Störern und Schaulustigen“

    
Moldenhauer, 40 oder 50 Meter entfernt, auf der anderen Straßenseite direkt an der Oper, beschreibt dasselbe: „Das Ganze war dann eine richtig durchgehend hektische Situation.“ Es seien Wurfgeschosse geflogen, ein Polizeiführer sei in die Menge im Schlauch gesprungen, „um auf der anderen Seite einen Steinewerfer oder was auch immer rauszuholen, dann sind Kollegen hinterdrein, das sah nicht besonders schön aus.“

    
Unter den Studenten waren noch immer Schaulustige, Schah-Fans, Springer-Leserinnen, sagt Fichter. „Als die Polizisten dann anfingen, loszuschlagen, haben wir den alten Damen, die wegen der Kaiserin hier waren, geholfen, aus dem Schlauch herauszukommen. Die bürgerliche Höflichkeit hat bei den Studenten also noch funktioniert. Es waren Springer-Fans, diese alten Damen, die waren ja dafür, dass wir vergast werden, oder zumindest in ein Arbeitslager kommen. Und dann mussten wir die schützen, völlig skurril.“

    
Auch hier, wie vor dem Schöneberger Rathaus, sieht man die Überraschung, mehr noch als Empörung, in den Gesichtern, als einige Polizisten mit ihren Knüppeln losschlagen. Man rechnet nicht damit, was sich auch daran ablesen lässt, wie man zur Demonstration gegangen sei, sagt Fichter: „Der SDS stand hier in Anzügen, mit Krawatten und weißen Hemden, in Sommerkleidern die Frauen. Nicht so wanderklamottenmäßig wie heute.“ Geschweige denn gerüstet für den Straßenkampf.

    
Auch die Polizei trägt keinen Tschako, jene Kreuzung aus Helm und Haube, die bei „unfriedlichen“ Anlässen getragen wird, sondern ihre normale Kalkmütze, die Ausstattung wie immer: Koppel mit Pistole und Polizeiknüppel, Knebelkette, zwei Verbandspäckchen, Trillerpfeife, Notizbuch.

    
Nachdem um 19.56 Uhr Bundespräsident Lübke und dann der Schah und Farah Diba vor der Oper eintreffen – Lübkes Fahrzeug soll von einem Ei getroffen worden sein – schließen sich die Türen, die Vorstellung beginnt, Mozarts Zauberflöte, gleich kommt Taminos erster Auftritt: „Zu Hülfe! zu Hülfe! sonst bin ich verloren, Der listigen Schlange zum Opfer erkoren. Barmherzige Götter! schon nahet sie sich; Ach rettet mich! ach schützet mich!“

    
Draußen fällt der Befehl zur Räumung, der letzte Schritt ins Verhängnis: Aus dem Schlauch wird eine „Leberwurst“, in die Polizeipräsident Erich Duensing in der Mitte hineinstechen lässt, damit sie auf den Seiten auseinanderplatzt, aus den Studenten werden „Störer“, „Krakeeler“, geeignet, sie mit Knüppeln zu traktieren.

    
Wer genau die Räumung anordnet, weiß Hartmut Moldenhauer nicht. „Aber ich schätze, dass der Polizeipräsident, der Herr Duensing, selbst den Befehl gegeben hat. Man erzählt ja, dass der Regierende Bürgermeister ihn beim Reingehen in die Oper angepfiffen und gesagt habe: Wenn ich hier rauskomme, ist der Spuk vorbei.“

    
Der Polizeibericht nennt es einen „massierten Polizeieinsatz und Schlagstockgebrauch“, um 20.09 Uhr, als ein Polizeikeil in die Mitte des Schlauchs von Demonstranten hineinschlägt, um die Studenten zur Seite zu drängen. Moldenhauer erinnert sich an „sehr unschöne Szenen, es wurde geknüppelt, die haben reingehauen, ich hab die Knüppel gesehen, die da hochflogen, auf Leute, die nicht weggehen wollten ... Die konnten ja gar nicht nach vorne weg.“

    
„Schlimm“ sei das gewesen, und „kein Ruhmesblatt für die Polizei“. Schon um 20.11 Uhr gibt es „Verletzte unter den Störern und Schaulustigen“, eine Minute später liegen „mehrere verletzte Personen auf dem Mittelstreifen der Bismarckstraße“.

    
Die knüppelnde Polizei drückt die Demonstranten zur Seite, in die Krumme Straße. Auf der Brache an der Ecke Bismarckstraße folgt „ein Katz- und Mausspiel, dann kamen die Wasserwerfer, von denen einer einen Blumentopf vom dritten Stock runterholte.“

    
Die „Räumung“ ist so offensichtlich verfehlt, dass sie schon wenige Tage nach dem 2. Juni zur Beurlaubung des Polizeipräsidenten Erich Duensing führen wird, schließlich im September zu seinem Rücktritt, dann dem Rücktritt des Innensenators Wolfgang Büsch, und schließlich des Regierenden Bürgermeisters Heinrich Albertz.

    
Noch lebt der Student im roten Hemd, aber das Alphabet des Verhängnisses, des aus dem Ruder laufenden Polizeieinsatzes, heißt: Wer A sagt, muss auch B sagen, wer vor der Oper räumt, der muss verhindern, dass sich die Studenten in der Krummen Straße neu sortieren, der schickt „Greiftrupps“ aus Kripo-Beamten in Zivil, um „Steinewerfer“ und „Rädelsführer“ zu jagen, und zwar ohne Uniform, ohne Schlagstock, nur mit der Dienstwaffe unterm Sakko, Walther PPK, Polizeipistole Kriminal.

    Im Innenhof des Hauses Krumme Straße 66/67, kurz nach 20.30 Uhr, fällt ein Schuss, oder zwei, es schießt der West-Berliner Kripo-Mann Karl-Heinz Kurras. „Bist du wahnsinnig, hier zu schießen?“, soll sein Kollege gesagt haben. „Die ist mir losgegangen“, habe Kurras geantwortet.
    
Die ist ihm losgegangen, jetzt liegt der Student am Boden, noch nach dem Schuss wird auf ihn eingeschlagen, Benno Ohnesorg hieß er, werdender Vater war er, ausgebildeter Schaufensterdekorateur, Student der Germanistik, Pazifist, Verfasser von Gedichten unter Pseudonym. Jetzt ist er nur mehr „Benno Ohnesorg“, nur mehr der, der am 2 Juni 1967 in Berlin erschossen wurde.

    
Kurras ist für die Studenten ein ehemaliger „Landser“, der von seinen Wehrmachtkameraden bei der Berliner Polizei gedeckt und in zwei Prozessen von der Anklage der fahrlässigen Tötung aus Mangel an Beweisen freigesprochen wird. Schlimmer, erschütternder, empörender noch als sein Schuss wird für viele sein Freispruch sein. Eben dieser Kurras entpuppt sich 40 Jahre später als Stasi-Spitzel, als beste Quelle der Staatssicherheit in der Abteilung I für Staatsschutz der West-Berliner Polizei. Erst jetzt ermittelt man von Neuem, erst jetzt nimmt man ihm seine verbliebenen Pistolen ab, erst jetzt stellt man ihn noch einmal vor Gericht.

    Je mehr man reinzoomt in diesen Tag, wie in eine alte Fotografie, je feinkörniger man hineintaucht ins Schwarz-Weiß, das damals Farbe war, desto weniger ergibt Sinn, was davon übrig bleibt. Das gilt auch für das, was danach kommt, daran anknüpft, daraus folgt. Tilman Fichter, der später den Anruf aus dem Krankenhaus entgegennehmen wird, läuft durch die Krumme Straße zum SDS-Zentrum, Kudamm 140: „Wir haben die Presse angerufen, ein paar Politiker in Bonn, haben Radio gehört, eine Erklärung formuliert, in Krankenhäusern rumtelefoniert und gefragt, ob Studenten eingeliefert worden sind, es war wie im Warteraum von einem Bahnhof. Es kamen immer mehr Leute, völlig aufgeregt von dem Geschehen.“
    
Dann der Anruf aus dem Krankenhaus, irgendwann zwischen 22 und 23 Uhr: „Ich wollte Ihnen mitteilen, dass gerade ein deutscher Student verstorben ist.“

    
Andere anonyme Anrufe, die zwischen 22.25 Uhr und 23 Uhr im Hilton-Hotel, der Polizeiinspektion Charlottenburg und der BZ-Redaktion eingehen, warnen, dass jeweils kurz darauf Bomben hochgehen würden.

    
– 23.15 Uhr Abfahrt der Kolonnen des Schah und des Bundespräsidenten von der Oper.
    – 23.28 Uhr Kaiserpaar am Hotel Berlin-Hilton eingetroffen.
    – 23.37 Uhr Vor dem Hilton-Hotel starke Missfallenskundgebungen.

    
Doch die Geschichte, das Verhängnis, das wir Geschichte nennen, ist damit nicht vorbei.

    „Am Ende“ erzählt Tilman Fichter, „hat mich im SDS-Zentrum jemand geholt und gesagt: Geh mal raus, da ist eine gut aussehende Frau und sagt, wir sollen Polizeikasernen stürmen. Da saß also Gudrun Ensslin am Rande des ganzen Durcheinanders, verzapfte solches Zeug und sagte: Mit der Auschwitz-Generation kann man nicht diskutieren, lasst uns eine Polizeikaserne stürmen und uns bewaffnen.“

    Es gebe Leute, sagt Fichter, die behaupten, er habe die Geschichte mit Ensslin klug erfunden. Zu sehr klinge sie wie eine Prophezeiung, eine Rechtfertigung für das, was folgt, wie eine direkte Verbindung zwischen jenem Junitag und dem Deutschen Herbst zehn Jahre später. Aber der Vorwurf stimme nicht, er habe nichts erfunden.

    So sei es nun einmal gewesen.