• Ein Jahr ohne Lea

    Es ist der Morgen ihres 16. Geburtstags, als sie sich auf den Weg macht – und spurlos verschwindet. Eltern, Freunde und Bekannte durchkämmen Berlin tagelang. Bis die schlimmste Befürchtung zur Gewissheit wird.




    Erschienen im Tagesspiegel, 2.6.2018

    Die Tür zu Leas Zimmer ist geschlossen, ihre Mutter hat es noch nicht wieder betreten, seit fast einem Jahr. Seit die Polizisten kamen, um zu sagen, dass sie Lea gefunden hatten. „Ich kann es nicht“, sagt sie.


    Leas Vater macht es immer noch wie früher. „Dass ich an ihre Tür klopfe. Ich weiß, sie ist nicht da. Aber es ist immer noch ihr Zimmer.“

    Lea wäre vor ein paar Tagen 17 geworden. Aber Lea wird nichts mehr. Lea ist verschwunden, einfach so, an ihrem 16. Geburtstag, ohne Nachricht und ohne Abschiedsbrief.

    An dem Morgen, einem Montag, ist sie spät dran, „mal wieder“, sagt ihre Mutter: „Ich hab ihr noch nachgeguckt, von oben, wie sie sich in aller Seelenruhe die Kopfhörerstöpsel reinmacht, und ihr nachgerufen, Lea! Beeil dich!“

    In der Schule kommt Lea nie an, seit jenem Morgen bleibt sie verschwunden, ihr Handy ausgeschaltet. Ein letztes Lebenszeichen: Als mit Leas Bankkarte am selben Vormittag um halb elf Uhr in Tempelhof 40 Euro abgehoben werden, dann nichts mehr. Später werden die Eltern herausfinden, dass die Abhebung schon vor dem Wochenende stattgefunden hat, aber erst am Montag gebucht wurde.

    Zwölf Tage machen ihre Eltern „nichts anderes, als nach ihr zu suchen“. Sie hängen Leas Bild an Bäume, in Bars und Geschäften auf, „VERMISST seit 29. Mai 2017, 16 Jahre, 160 cm, Haar zur Hälfte Pink und Schwarz, trug zuletzt schwarze Leggings mit Knochenmuster, einen schwarzen Pulli und eine grüne Sweatshirtjacke mit Rissen“, sie schreiben Facebook-Aufrufe, versuchen die Polizei dazu zu bringen, eine Öffentlichkeitsfahndung auszurufen, sodass Leas Bild im Berliner Fenster in der U-Bahn erscheint.

    Sie mobilisieren Verwandte, Freunde und Freunde von Freunden. Die beiden großen Brüder Leas durchsuchen die Stadt systematisch nach ihr, gehen an die Orte, an denen Lea gern war, und die, an denen jemand sie gesehen haben will. Leas Freunde kommen vorbei, holen sich Flyer, heulen sich aus, ziehen von Neuem los. Es gibt keine Hinweise auf ein Gewaltverbrechen, einen Unfall oder eine Entführung.

    Seither ist fast ein Jahr vergangen. Es ist das erste Jahr nach Leas Suizid, das erste Trauerjahr für die, die Lea hinterlassen hat: für ihre Eltern, ihre Brüder, ihre Freundinnen und Freunde. Ein Jahr auf der Suche nach Antworten, an dessen Ende Leas Vater sagt: „Ich würde allen Eltern raten: Lest die Tagebücher eurer Kinder!“ Das sei ein Tabu, klar. Aber vielleicht manchmal lebensrettend.

    Eine Woche nach Leas Verschwinden sitzen ihre Eltern an dem Küchentisch in ihrer Kreuzberger Altbauwohnung, der Kommandozentrale der Suche nach ihrer Tochter. Auf dem Tisch liegt das Handy von Leas Mutter, jedes Mal, wenn es piepst, eine neue Nachricht, beschleunigt der Puls.

    Leas Vater, Manoel, kommt aus Brasilien, er ist einer der Theaterleiter eines Neuköllner Kinos. Leas Mutter, Gaby, ist Grafikerin aus Bayern. Zusammen mit Lea und ihren beiden Brüdern wurden sie eine Kreuzberger Familie, sie führen ein offenes Haus, für ihre Freunde und die ihrer Kinder.

    Gaby wird immer blasser, seit Lea weg ist, ihre Brille wirkt immer breiter im schmaler werdenden Gesicht, sie magert ab. „Ich krieg halt echt kaum Essen runter“, sagt sie. Manoel, mit Vollbart, wird runder, seit Lea weg ist, war vorher schon ein guter Esser, „durch den Stress ist es noch ein bisschen mehr“, sagt er, und: „Schlafen tun wir auch nicht mehr.“

    Leas Geburtstagstorte, ein flacher Erdbeerkuchen, steht noch immer im Kühlschrank, seit einer Woche schon. Am Morgen ihres Verschwindens hatte Lea noch die Kerzen ausgeblasen, zu ihrem 16., den sie eigentlich nicht feiern wollte, was für sie „jetzt auch nicht so ungewöhnlich“ gewesen sei. Lea sei „ein ganz kluges, lustiges Mädchen“, sagt Gaby, „eine wilde Hummel, die gerne Party macht und wahnsinnig viele Freunde hat, in der Schule und außerhalb“.

    Lea hatte in der Grundschule eine Klasse übersprungen, „sie hatte so einen Drang“, sagt Gaby, „immer so schnell erwachsen zu werden, immer mit Älteren zu sein. Sie wollte eine starke und unabhängige Frau werden, wir haben das immer unterstützt.“

    Lea spielte Theater, trainierte Bogenschießen, engagierte sich eine Zeit lang in der Greenpeace-Jugend. Als in Berlin ein Pegida-Ableger begann, wöchentliche Demos abzuhalten, ging sie dagegen monatelang auf die Straße, irgendwann hörte sie damit auf. Lea färbte sich die Haare pink, trug abgerissene Kleider und warf ihren Eltern vor, sie seien spießig. „Das haben wir oft gehört“, sagt Gaby, „dass wir zu angepasst wären, sie müsse ja nur in die Schule gehen, weil die Gesellschaft das so wolle, und wir ließen uns davon beeindrucken.“

    Mitte Mai fand ihre Mutter heraus, dass Lea seit April nur mehr sporadisch in der Schule war. Lea sagte damals, ihr reiche der mittlere Schulabschluss, sie wolle keinen guten Job, nicht studieren, gar nichts. Am Ende einigte sie sich mit ihren Eltern darauf, dass sie die 11. Klasse noch beendet und dann von der Schule geht.

    Am Nachmittag des 29. Mai ruft die Schule an, Lea sei nicht zum Unterricht erschienen. Gaby schreibt ihr, „Wann kommst du? Der Kuchen wartet!“, doch Leas Handy ist da schon aus, die Nachricht bleibt ungelesen. „Man sieht, die hat nur ein Häkchen“, sagt Gaby eine Woche später, „da wusste ich langsam, irgendetwas stimmt da nicht ganz.“ Um 18 Uhr finden Leas Eltern, „das ist jetzt irgendwie nicht mehr gut“, um 19 Uhr gehen sie zur Polizei, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben. „Die nehmen das auf, mit einer Vorgangsnummer, dann kriegt man einen Zettel und fertig“, erzählt Gaby; die helle Aufregung der Eltern trifft auf die Schwerkraft der Routine im örtlichen Polizeiabschnitt. Erst am Dienstag, da war Lea schon 24 Stunden verschwunden, seien zwei Kripobeamtinnen gekommen, da hatten die Eltern schon Flyer gedruckt und Massen-E-Mails an Freunde und Bekannte geschickt.

    Eine Woche nach Leas Verschwinden backt ihr Vater Manoel einen neuen Kuchen, diesmal mit Himbeeren, für Leas Bruder, der 18 wird. Er feiert nicht, wegen der Suche nach Lea. Die Eltern haben ihre eigenen Handynummern auf die Flyer und Poster gedruckt, „weil ja nicht jeder unbedingt so gerne bei der Polizei anruft“. Das aber heißt, es kommen unentwegt Nachrichten, Anrufe, rund um die Uhr. Leute, die Lea gesehen haben wollen; Leute, die sich vergewissern, ob die Poster echt sind; Leute, die ein Mädchen, das vielleicht Lea sein könnte, in Dortmund, Hamburg oder Zehlendorf gesichtet haben. Hunderte Hinweise. Aber keiner, bei dem man sicher sein könnte, dass es Lea war.

    Gaby lächelt und hat Tränen in den Augen, abwechselnd und manchmal zugleich. Am Ende der ersten Woche sagt sie: „Inzwischen ist die anfängliche totale Panik weg, es bleibt die Fassungslosigkeit, die Frage: Was kann mit ihr passiert sein? Mir gehen dann alle möglichen Bilder durch den Kopf, das verbiete ich mir, weil es nicht auszuhalten ist.“

    „Wenn wenigstens ein Brief da wäre“, sagt Manoel, „selbst wenn darin stünde, ,Ey, passt auf ihr Pappnasen, ich hab keinen Bock mehr auf die Schule, ich hau jetzt ab‘, dann wüsste man, okay, die will jetzt ihre Ruhe haben.“

    Die Eltern hoffen, dass Lea ausgerissen ist. Es gibt ein paar mögliche Anzeichen dafür, ein fehlendes Shampoo, Kleider, die nicht mehr da sind, oder den Umstand, dass Lea ihren Schulrucksack an jenem Morgen zu Hause ließ, ihre Mutter hatte sie noch gefragt, nimmst du den nicht mit? Lea antwortete, ihre Sachen seien schon in der Schule.

    Es gibt mehrere Hinweise, dass Lea, oder ein Mädchen, das so aussieht wie sie, in der Nähe der Oberbaumbrücke gesehen wurde. Aber Gewissheit gibt es keine.

    Zwölf Tage nach Leas Verschwinden feiert ihr großer Bruder doch noch Geburtstag, die Eltern schlafen in der Wohnung von Nachbarn. In der Nacht taucht die Polizei im Haus auf, eine LKA-Beamtin und ein Seelsorger, sie kommen, um zu sagen, dass Lea gefunden wurde. Gaby fragt, „Lebt sie?“ „Nein.“ Da schreit sie, NEIN, NEIN, NEIN, eine halbe Stunde nur NEIN.

    Lea hat sich erhängt. Erst zwölf Tage später wird sie gefunden. Die Polizei rät den Eltern davon ab, die Tochter noch einmal zu sehen.



    Sieben Monate nach Leas Tod steht ihr Bild auf demselben Küchentisch, von dem die Suche nach ihr koordiniert wurde, daneben brennt eine Kerze. Lea lächelt darauf, aufgeweckt und zart. Unter dem Fenster liegt der Hund, Kili, ein schwarzer Labrador, um den sich Lea mit ihrer Mutter und ihrem Bruder gekümmert hatte.

    Manoel macht Kaffee. „Heute ist ein guter Tag“, sagt er. „Aber es gibt auch schlimme Tage. Die Hoffnung ist, dass irgendwann die besseren die schlimmen überwiegen.“

    Gaby, immer noch schmal im Gesicht, trägt die blonden Haare jetzt kurz. Sie kann es, sieben Monate danach, nicht fassen. Dass das jetzt ihr Leben ist. Eine tote Tochter zu haben. Jeden Tag an ein Grab zu gehen. „Es tut wahnsinnig weh“, sagt Gaby, „als hätte jemand einen Teil aus dir herausgerissen. Ich bin ein ganz anderer Mensch, als ich vorher war, ich hab permanent jetzt so etwas Schweres, was mir wehtut. Weil da so etwas Großes fehlt.“

    „Rational weiß ich“, sagt Manoel, „ich muss das akzeptieren. Aber emotional, wie soll das gehen? Lea hat eine Entscheidung getroffen, die ich nicht verstehen kann. Die aber unumkehrbar ist.“

    Die beiden passen auf das Kind einer Freundin auf, das gerade keinen Kitaplatz hat, einen kleinen Jungen, der eben gehen gelernt hat und noch gar nichts weiß. Der hochgenommen werden will, trinken, dann getröstet werden, als er sich bei seinen Gehversuchen den Kopf anschlägt.

    Das hilft, sagt Manoel, es lenkt ab. „Ein guter Tag heißt, dass der Schmerz und die Schuld ein bisschen in den Hintergrund treten.“ Die Schuldgefühle sind immer da, „selbst wenn Gott und Lea zusammen kämen und mich freisprächen, würden sie nicht weggehen.“

    Gaby sagt: „Ich beneide Leute, deren Kinder oder Verwandte an Krebs gestorben sind – oder bei einem Unfall. Weil man das noch eher verstehen könnte.“

    Manoel versucht seit Monaten, das Handy, das bei Lea gefunden wurde, zu entsperren. Vielleicht würde irgendetwas darin helfen, eine Nachricht, ein Chat, eine Notiz, ein Foto. Ein Profi, bei dem er war, hat es nicht geschafft, das Handy zu knacken, also probiert er es selber. Das dauert. Die Zahlenkombination, es sind mindestens 10 000 Möglichkeiten, und jedes Mal muss man 30 Sekunden warten, wenn es die falsche ist.

    Zugleich hat er Angst, dass auch das, wenn es endlich klappt, nicht helfen würde, zu verstehen. So kann er noch eine Weile seine Hoffnung an etwas hängen, das erklären könnte, warum Lea nicht mehr ist.

    Gaby fragt sich, ob es gut war, in der Großstadt, in Kreuzberg, Kinder großzuziehen. „War die Schule, in der sich Lea nicht wohl fühlte, für sie die richtige? Hätte ich etwas anders machen können? Warum habe ich mich so leicht abspeisen lassen?“, als Lea die Schule geschwänzt und uns Eltern „knallhart angelogen“ hatte. Lea hatte Freunde, aber dann brach sie Freundschaften auch wieder ab, ging neue ein. Erst nach Leas Tod erfuhr Gaby aus Leas letzter Clique, dass sie alle möglichen Drogen genommen hatte, nicht bloß gekifft. „Was habe ich falsch gemacht? Hab ich überhaupt etwas falsch gemacht? Etwas zu viel getan, etwas versäumt?“

    Gaby und Manoel sind immer noch krankgeschrieben. Arbeiten geht nicht, wenn die Arbeit auf einmal völlig belanglos erscheint. Manoel sagt, das Aufsperren des Kinos, das Starten des Films, das Gehetze hierhin und dorthin, alles, was vorher wichtig war, habe auf einmal keine Bedeutung mehr. Eher habe er das Gefühl: „So what, dann wird das Kino halt nicht aufgesperrt, dann gibt’s halt keinen Film, kein Popcorn, die Leute werden’s überleben.“

    Gaby ist bei einer Therapeutin in Behandlung. Die habe gesagt, es brauche zwischen drei und fünf Jahre, bis man vielleicht wieder so was wie Glück empfinden kann. Wenn man sich bemühe, dem Leben zuwende.

    Trauer sei keine Arbeit, sagt Gaby, auch wenn man das oft höre. „Trauerarbeit, das klingt, als könnte man die Trauer wegarbeiten, abarbeiten, Stück für Stück. Was gar nicht geht. Aber vielleicht verändert sich etwas mit der Zeit.“ Dann sagt sie: „Wir haben uns fürs Überleben entschieden. Wenn wir einander nicht hätten, und unsere Söhne, wir hätten das nicht geschafft.“

    Sie planen jetzt eine Trauerfeier, an Leas erstem Todestag, für sich und Leas Freunde.

    Dass Lea Stress in der Schule hatte, wussten die Eltern, auch dass sie an Bulimie litt und in der 9. Klasse über Mobbing geklagt hatte. Das sei zwar vorbei gewesen, aber sie habe sich in der Schule einfach nicht mehr wohlgefühlt, sagt Gaby, „vielleicht hätte sich das in einem halben Jahr wieder gegeben“.

    Dass sie vieles scheiße fand, bekamen die Eltern zu hören, dass sie ganz anders leben wollte, vielleicht ohne selbst zu wissen, wie. Bei der Greenpeace-Jugend, in der Lea bis vor eineinhalb Jahren war, wurde sie ausgewählt, in der Urania vor 800 Leuten eine Rede zu halten, vor einer Vorstellung der Schneekönigin, um auf den Klimawandel aufmerksam zu machen. „Das war das letzte Mal, dass sie eine Leidenschaft hatte.“

    Aber einen anderen Teil ihres Lebens hatte Lea vor ihren Eltern verborgen: dass sie zwei kleine Tattoos hatte, selbst gestochene, erfuhren sie erst nach ihrem Tod. Dass sie in eine Clique gekommen war, in der es nichts Besonderes war, harte Drogen zu konsumieren: Speed, Ketamin, LSD, Koks. Dass sie Geschichten ins Internet geschrieben hatte, auf Englisch, mit zwölf oder 13, über ein Mädchen, das alt wirkt, aber jung ist, und über „euch Menschen“ spricht, als zähle sie sich selbst nicht dazu. Oder über ein schwules Liebespaar in Kalifornien, das in den Untergrund geht, aus irgendeinem Grund, und über das es heißt, „Maybe it will be okay. Maybe THEY will be okay.“

    „Was für eine Verschwendung“, sagt Gaby, „sie hätte ohne Probleme Schriftstellerin werden können.“

    Verborgen hatte Lea auch, dass sie das, was sie später getan hat, irgendwann überlegt und dann beschlossen hatte. Erst hinterher fanden die Eltern auf ihrer Suche nach Antworten ein Notizbuch – und darin eine Art Drehbuch, in dem Lea ihren Suizid vorwegnimmt. Sie hat es zwei Jahre vor ihrem Tod geschrieben.

    Das ist auch einer der Gründe, warum Leas Eltern ihre Geschichte erzählen wollen und zustimmen, dass dieser Artikel erscheint. „Er macht das, was passiert ist, kein bisschen weniger sinnlos“, sagt Manoel, „aber vielleicht hilft er ja jemand anderem.“

    Gaby hat Leas Zimmer immer noch nicht betreten. Manoel hat Leas Bett, das sie mit ihm gebaut hatte, weil sie so ein Palettenbett wollte, an einen ihrer Freunde verschenkt. Damit es nicht nutzlos ist. Aber als der Freund kam, um es abzuholen, und er ihm helfen wollte, da konnte er nach kurzer Zeit nicht mehr, wollte nicht mehr mit anderen sein.

    Was geholfen hat, in der Zeit? „Unsere Freunde und meine Schwestern“, sagt Gaby, „wir haben uns getragen gefühlt, waren von Anfang nie allein. Und wegzufahren, drei Wochen, auf den Großglockner, nur wir beide und der Hund. Überhaupt der Hund, der einen zwingt aufzustehen, rauszugehen, sich zu bewegen.“ Als Lea verschwunden war, wollte Gaby ein Bild des Hundes mit auf die Flyer drucken. Damit Lea sich meldet, wenn sie ihn sieht.

    Als wisse er, worum es geht, steht der Hund jetzt auf, guckt treuherzig, dann drückt er mit der Schnauze gegen die Tür zum Flur, bis sie aufgeht.




    
Gabys Therapeutin will nicht mit ihrem Namen in der Zeitung stehen, nicht in der Öffentlichkeit stehen, aber sie ist zu einem Treffen bereit, bei einem Griechen um die Ecke, wo man sie kennt. Sie sagt: „Ich bin für die Überlebenden da. Die Trauer ist für die Überlebenden da.“

    Ihre Arbeit mit Leas Mutter habe am Anfang nur darin bestanden, sagt sie, sie so weit zu stabilisieren, dass sie sich selbst wieder spürt, Hoffnung schöpft, dass das nicht immer so bleiben wird. Wut auch, die kann Energie geben. Um dann, erst später, die Suche nach Antworten zu unterstützen, das ginge ja am Anfang gar nicht.

    „Jeder Suizid“, sagt die Therapeutin, „ist auch ein Akt der Aggression gegen die Nächsten, und für die ein massiver Angriff auf die eigene Persönlichkeit, die eigenen Werte.“ Umso mehr, wenn es das eigene Kind ist, das sich das Leben nimmt.

    Was können die Eltern tun? „Alles rauslassen“, sagt sie. Und die Scham überwinden. Weil sie Angst haben, dass ihre Mitmenschen jetzt denken, sie haben ihre Tochter nicht schützen können. Wieder die Wohnung verlassen, zurückgehen in die Stadt, die ihnen ihre Tochter genommen hat. „Die Scham überwinden, selbst wenn sie in Tränen ausbrechen, bei allen möglichen Gelegenheiten, oder Angst haben, verrückt zu werden, wenn ihnen die Tochter auf der Straße erscheint, ein ganz normales Phänomen“, sagt die Therapeutin.

    Die Eltern müssten lernen, mit der Frage zu leben: Was hätten wir tun können? Ohne immer eine Selbstanklage draus zu machen, ein Urteil.




    
Es ist schneidend kalt, im März, zehn Monate nach Leas Tod. Ihr Grab auf einem Kreuzberger Friedhof hat noch keinen Grabstein. Es ist bloß ein kleiner Erdhügel, unter einem Ahorn, Efeu wächst schon drüber, zwischen Kränzen, Kerzen und verwelkenden Blumen. Eine Elektrokerze hat seit Weihnachten nicht aufgehört zu leuchten.

    Gaby und Manoel kommen fast jeden Tag hierher, nicht wie Spaziergänger, sondern zielstrebig bis zu der Stelle, wo Leas Asche begraben ist. Eine Bank haben sie zwischen zwei Bäumen versteckt, zum Draufsitzen, und ein Kerzenlager. Gaby pflückt das welke Laub vom Grab, Manoel zündet neue rote Kerzen an, fragt sich, welcher von Leas Freunden diese oder jene Kerze gebracht hat. Gaby sagt, „ich gehe nicht mehr in unseren Garten, sondern hierher. Das ist jetzt mein Garten“.

    Sie haben sich mit den Hinterbliebenen an den benachbarten Gräbern angefreundet, den Eltern eines Jungen, der an Krebs gestorben ist, und denen eines Babys, das die Geburt nicht überlebt hat.

    Gaby war inzwischen für ein paar Wochen bei einer Freundin, die Pferde hat. „Das hat geholfen“, sagt sie, „so blöd und esoterisch das klingt, die Pferde, das war irgendwie fast magisch, sie tragen einen, so große Tiere und so sanfte.“

    Die Abschiedsfeier, geplant für den ersten Jahrestag von Leas Tod, haben sie abgesagt. Schon bei den ersten Schritten, sie zu organisieren, sagt Gaby, „sind in einem fort die Tränen geflossen. Wir sind einfach noch nicht bereit, für eine Feier, einen Abschied.“

    Manoel sagt: „Wir gehen verschieden damit um, wir und unsere Söhne, der eine macht noch mal krass Party, der andere zieht sich zurück, spricht nicht darüber. Jeder trauert auf seine Weise. Aber man kann von außen nicht sehen, wie groß der Schmerz ist.“ Und: „Was wichtig ist, ist, dass wir miteinander reden. Das war vorher schon wichtig, und wenn das jetzt aufhören würde, wäre es fatal.“

    Auch er hat einen Therapeuten, aber der sagt, er wisse nicht mehr, was er für ihn tun könne. Er wirke doch, als habe er einen Plan. „Vielleicht wirke ich so, aber ich fühle mich nicht so. Eher wie ein Schatten meines früheren Selbst.“ Vielleicht, sagt er, „sind die Therapeuten bei mir mit ihrem Latein am Ende?“

    Die beiden haben sich ein Ziel gesteckt: irgendwann wieder ins normale Leben zurückzukommen, in den Arbeitsprozess. Dinge zum ersten Mal wieder tun, sich dem Alltag im Kleinen aussetzen, Schritt für Schritt. Rausgehen. Abends rausgehen. Es gebe ganz viele Sachen, wo man nicht weiß, wird das jetzt schwierig? Und dann merke man auf einmal, ja, das wird schwierig.

    „Ich war vor ein paar Tagen zum ersten Mal wieder beim Zahnarzt“, sagt Gaby, „wo wir seit 25 Jahren hingehen und wo die Lea als kleines Kind schon immer hingegangen ist. Ich bin da angekommen und hab gleich zum Heulen angefangen. Die Sprechstundenhilfe ist dann rumgekommen und hat mich umarmt, total süß, dann ging es, und ich weiß jetzt, das nächste Mal wird es okay sein.“

    Die beiden verstecken ihre Bank wieder zwischen den Bäumen, sammeln den Abfall zusammen und blicken noch einmal, bevor sie gehen, zurück. „Verrückt eigentlich“, sagt ihre Mutter, „dass man noch sagt: Ciao Lea, zu einem Stück Erde.“

    Gaby und Manoel suchen immer noch nach Antworten, nach Anhaltspunkten, in Leas Sachen, bei Leas Freunden, im Internet. War Lea depressiv oder psychotisch? Steckte sie in einer Identitätskrise? Welche Rolle haben die Drogen gespielt? Warum hat sie die Eltern angelogen, Entschuldigungen gefälscht?

    „Es bringt nichts, sauer zu sein, auf Lea, das bringt Lea nichts“, sagt ihr Vater. „Aber Lea bringt ja gar nichts mehr irgendwas“, sagt ihre Mutter.

    Was ist zwei Jahre vor Leas Tod passiert, wonach sie ihren Suizid als Drehbuch ins Tagebuch schrieb? Ein Freund hatte sich das Leben genommen, als Lea 14 war, das hatte sie beeindruckt. Aber eigentlich dachten die Eltern, dass sie sich nach den Problemen in der 9. Klasse wieder gefangen, ihre Bulimie sich gebessert hatte und sie in der Oberstufe besser mit ihren Mitschülern zu rechtkam. Der letzte Urlaub mit ihrer Familie, zehn Monate vor ihrem Tod, sei schön gewesen, sagt Manoel, Lea war locker, „so wie früher“.


    Auch Leas beste Freundin, Zoe, sucht immer noch nach Antworten. Sie glaubt nicht, dass Leas Suizid lange vorher geplant war. Lea, die Kleine, habe einen großen Geist gehabt, einen „extremen Lebensdrang“. „Lea lebte im Moment, ohne an die Konsequenzen zu denken“, sagt Zoe. Sie wollte immer Neues kennenlernen, wollte immer mehr, auch als sie Drogen nahm, und hörte nicht auf die anderen, wenn die sie bremsen wollten. Manchmal fragte man sich, ob die Freundschaft irgendwann ein Ablaufdatum haben würde. „Alle kannten nur eine Version von Lea“, sagt Zoe, „niemand kannte sie ganz. Was sie auch geheimnisvoll machte.“

    Zoe hat Angst, Lea zu vergessen, ihre Stimme, ihren Geruch. Leas Geist, sagt sie, war vielleicht einfach zu groß für ihren Körper. Ihren Körper, den sie nicht gemocht habe, versteckt habe. „Es ist so schade um sie“, sagt Zoe, „sie hätte so eine starke Frau werden können.“


    Manoel sagt: „Ich habe, obwohl ich glaube, dass es nicht so ist, aber ich habe oft das Gefühl, ich habe versagt, meinem Kind gegenüber. Dass ich glaubte, Lea vor vielem schützen zu können, aber sie nicht vor sich selbst schützen konnte.“

    „Bei mir geht das noch weiter“, sagt Gaby, „ich glaube, wir hätten sie besser schützen sollen vor der Stadt, vor den Leuten.“ Gaby hat sich die „hanebüchene Ausstellung über die armen Drogendealer im Görlitzer Park“ angeguckt, auch wenn Lea selbst nicht dort Drogen gekauft hatte, sondern eher über Bekannte und Freunde. „Da bin ich hingegangen“, sagt sie, „und hab mir dann im Gästebuch zwei, drei Seiten alles von der Seele geschrieben. Das hat mir gutgetan. Das war so typisch Kreuzberg, es wird einfach hingenommen, dass überall die Drogendealer stehen, und eigentlich sind die auch noch ganz arm. Klar sind die teilweise auch arm, aber die Ausstellung war echt heftig.“

    Sie überlegt auch, noch einen Brief an die Schule zu schreiben, an die Lea zu wechseln versucht hatte. „Ich hatte diese Schule angeschrieben, dass sie gemobbt wird und wahnsinnig gerne die Schule wechseln würde. Dann hat mich die Sekretärin dermaßen abgewimmelt, dass ich mir dachte, toll, wie die umgehen mit so einer Problematik.“ Nee, wir haben hier genug Schüler, hätte sie gesagt, wir brauchen so eine nicht, wenn die Noten besser wären vielleicht, aber so ... Bringt es was, die Schule noch mal daran zu erinnern? „Klar bringt es die Lea nicht zurück“, sagt Gaby. Aber vielleicht würde es ihr, Gaby, helfen.

    Leas Zimmer hat Gaby noch immer nicht betreten. „Ich dachte, ich nehme mir das vor, nach zehn Monaten“, sagt sie, „aber das wäre ja jetzt und ich kann das noch nicht.“

    Manoel hat inzwischen mit seiner Schwester aus Brasilien den Ort noch einmal besucht, an dem Lea sich das Leben genommen hat. „Ich könnte das nicht“, sagt Gaby, „Ich fahr da nicht mehr hin, nicht mal in die Nähe, seitdem, nie mehr in den Bereich Wedding-Gesundbrunnen-Prenzlberg.“

    „Wenn ich an den Ort hingehe“, sagt Manoel, „hab ich nicht das Gefühl, dass es ein schlechter Ort ist, im Gegenteil. Ich hab schon mal überlegt, mit der Deutschen Bahn zu sprechen, ob man da nicht etwas anbringen darf, eine Plakette, für Lea.“

    „Ich geh da nie wieder hin.“

    „Musst du nicht. Aber wenn ich in der Bahn bin, die fährt daran in einem Bogen vorbei, da hab ich immer einen kurzen Moment, so für mich, wo ich weiß.“


    Mitte Mai wird endlich der Grabstein für Lea geliefert, ein kleiner Findling aus Granit, halb geschliffen, halb rau und unbehauen. Am Sockel stehen Leas Geburts- und Todestag, 16 Jahre auseinander. Jetzt ist der Ort wirklich zum Grab geworden. „Das war auch nicht ganz einfach“, sagt Gaby, fünf Tage vor dem Ende des ersten Jahres. Die ganze Zeit im Mai und Juni werde wahrscheinlich immer schwierig sein, je näher der Jahrestag rückt, desto beklemmender. „Heute vor einem Jahr zum Beispiel war ich mit ihr noch bei einem Psychiater. Der aber nichts taugte. Danach hat sie mich lange gedrückt, vielleicht war das schon ihr Abschied.“

    Gaby und Manoel haben beschlossen, zu Leas Geburtstag, zum ersten Jahrestag, noch einmal zwei Wochen zusammen wegzufahren, zu der Freundin mit den Pferden.





    Alle Namen geändert.