Sie waren die Spitzenmanager der DDR, Wirtschaftsbosse und hohe Beamte mit großer Macht. Sie leiteten Zementwerke und Maschinenfabriken, reisten im Auftrag des Staates um die Welt. Heute sind ihre Lebensleistungen vergessen. Deshalb treffen sie sich in einem Berliner Café, um einander von damals zu erzählen. Und eine Antwort zu finden auf die Frage: Haben wir alles verdorben?
Zuerst veröffentlicht im ZEITmagazin, 20.09.2018
Eckhard Netzmann ist erst in ein paar Monaten dran mit seinem Vortrag, aber er hat schon jetzt schlaflose Nächte, dreht sich hin und her, überlegt, was er berichten soll. "Wenn Sie wüssten, wie viele Stunden ich schon wach gelegen habe", sagt er. "Aber bis jetzt ist noch nichts Substanzielles rausgekommen." Er zweifelt nicht nur daran, dass er etwas Gehaltvolles zu sagen hat, sondern auch daran, dass ihn jemand hören will.
Denn Netzmann, 79 Jahre alt, gelernter Werkzeugschlosser, heute Unternehmensberater, war einer der ganz Großen im Wirtschaftsleben der DDR: Generaldirektor des VEB Schwermaschinenkombinats Ernst Thälmann, dann des VEB Zementanlagen Dessau, schließlich stellvertretender Minister für Anlagenbau, Regierungsbevollmächtigter, Sonderbeauftragter. Zementwerke hat er gebaut, Dampfkessel, riesige Schwerindustrieanlagen aus der DDR in die ganze Welt exportiert. "Anlagenbau, das hat mit Maschinenbau nichts zu tun", sagt Netzmann, "Anlagenbau, das ist was ganz anderes, Systemtheorie, Kybernetik ist das, Systemtheorie und Kybernetik."
Dabei will er nicht bloß erzählen, sondern etwas sagen, aus dem man eine Lehre ziehen könnte, wenn er demnächst "in der Sibylle" spricht, einem Café an der Karl-Marx-Allee in Berlin, das die DDR überdauert hat. Einmal im Monat trägt hier einer aus einer Runde von ehemaligen DDR-Wirtschaftslenkern vor. Spitzenmanager würde man sie heute nennen, früher hießen sie Kombinatsdirektoren, Wirtschaftskapitäne, "Genossen Generaldirektoren" in den VEB, den volkseigenen Betrieben.
Aber, fragt sich Netzmann, "wer will denn noch was hören von uns? Was palavern wir denn überhaupt noch? Das Prinzip ist ja, die Leute wollen das gar nicht wissen, was wir wussten und was wir konnten, die wollen vergessen, einen Schlussstrich ziehen."
Netzmann weiß, dass viele jetzt denken: Aha, gewiss ein system- und linientreuer, gleichgeschalteter DDR-Funktionär, Scherge der SED-Diktatur, Zahnrädchen des Unrechtsstaates. Und nicht, wie er es sieht: ein höchst erfolgreicher Wirtschaftslenker. Der Betriebe mit 20.000 Arbeiterinnen und Arbeitern dazu brachte, im sozialistischen Ausland und zum Teil sogar auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu sein. Oder: ein DDR-Spitzenmanager, der von sich behaupten kann, zweimal fristlos entlassen worden zu sein. Weil er angeeckt sei, sagt er, einmal 1983, auf Regierungsdelegation in Venezuela, und dann noch einmal, weil er einem SED-Parteifunktionär im Betrieb gekündigt habe.
Was soll Netzmann erzählen? Was kann er überhaupt berichten? Er will ja nicht die DDR verteidigen, reinwaschen, sich in Nostalgie ergehen, sagt er. Sondern darstellen, wie man in der DDR, trotz der DDR und ihretwegen gearbeitet, wie man "mit Redlichkeit und Ehrlichkeit Großes geleistet" hat, im Anlagenbau jedenfalls. Netzmann weiß, dass er eigentlich etwas Unmögliches will: über die DDR sprechen, über die Wirtschaft und das Arbeiten in der DDR, als gehöre nicht alles und jedes auf die Müllhalde der Geschichte, als sei die DDR nicht zu Recht gescheitert und es nicht wert, sich weiter mit ihr zu befassen: leere Regale, Autos aus Pappe, Stasi-Diktatur, aus und vorbei.
Aber wenn das alles wäre, das Wahre und Ganze, dann kippte man auch Netzmanns Leben mit aus. Wie er mit 14 von der Schule ging, weil die Eltern das Lehrgeld brauchten, 65 Mark Ost für die Familienkasse. Wie er mit 16 gelernter Werkzeugschlosser wurde, mit 20 schon Ingenieur. Wie er als "kleiner Technologe" anfing, sich hocharbeitete, bis zum Chef eines Walzwerks, all das fiele dem Vergessen anheim: die 18-Stunden-Tage, das Managen eines Kombinats mit 25.000 Arbeiterinnen und Arbeitern, als Generaldirektorengehalt das Dreifache des Durchschnittslohns im Betrieb.
Eckhard Netzmann, der in den Neunzigerjahren Vorstand der Ostberliner Kraftwerks- und Anlagenbau AG mit zuletzt 1500 Angestellten war, arbeitet heute als Unternehmensberater für ostdeutsche Textil- und Zementfirmen. Er empfängt im "Alten Fritz", deutsche Küche in einem DDR-Hochhaus am Alexanderplatz, wo er die Speisekarte auswendig kennt und einen zu einer halben "Wurstparade" einlädt, weil er sie allein nicht mehr schafft. Netzmann weiß, dass das, was er erzählen könnte, nicht gehört werden wird, solange die Gewinner-Verlierer-Geschichte über die BRD und die DDR allen Raum einnimmt, immer noch, 28 Jahre nach dem Untergang der DDR. Dabei will er die nicht beiseiteschieben, er hat sie ja selbst am eigenen Leib erlebt. Aber gibt es daneben nicht Platz für andere, für seine Geschichten?
Es sind, hört man ihm zu, Geschichten vom Arbeiten in der DDR. Vom Wirtschaften unter den Bedingungen des Ein-Parteien-Staats. Vom Managen riesiger Betriebe nach Plan, nicht nach Maßgabe des Profits. Wo man die Arbeiter nicht mit Geld motivierte oder, indem man mit Stellenabbau drohte. Sondern mit Agitprop, dem Stolz auf den Betrieb, dem betriebseigenen Kulturhaus, der Bibliothek, den Tanzgruppen, der Poliklinik. Mit dem Sommerurlaub in Zingst, die ganze Familie zwei Wochen für 30 Mark Ost. Oder mit der betriebseigenen Handballmannschaft, wie in Dessau, beim VEB Zementanlagenbau: "Fragen Sie nicht", sagt Netzmann, "wie viele Schiedsrichter ich bestochen habe, um die Mannschaft in der ersten Liga zu halten."
Es habe, sagt Netzmann, ein Vertrauensverhältnis gegeben, das mit der DDR verloren gegangen sei: "Wenn in meinem Betrieb jemand Schwächen hatte, dann habe ich den Brigadier zu mir geholt und gesagt: Du weißt, dass der Meier dieses oder jenes Problem hat, jetzt kümmert euch mal um den Meier. Können Sie sich vorstellen, dass heute jemand in einem Betrieb sagt, ihr habt da einen Alkoholiker, macht was? Den schmeißen die heute doch einfach raus. Ich konnte ihn nicht rausschmeißen, und ich wollte ihn ja auch nicht rausschmeißen."
Die Generaldirektoren erzählen die Geschichte der Arbeit in der DDR aus der Sicht von Vorgesetzten, von Managern, Unternehmensführern. Offiziell gab es ja keine Arbeitnehmer und keine Arbeitgeber, weil der Begriff des Arbeitgebers "das wirkliche Verhältnis zwischen Arbeitern und Kapitalisten auf den Kopf" stelle, wie es in einem Dokument aus dem "Staatsbürgerkundeunterricht" von 1964 heißt: Die Arbeiter gäben ihre Arbeit, die Kapitalisten nähmen sie sich, nicht umgekehrt. Wie das Geben und Nehmen aber in der DDR genau ablief, blieb im offiziellen Begriffspaar "Werktätige" und "Betrieb" ungesagt.
Netzmann spricht heute von "Engineering-Kapazität" und "Managementqualität", aber er kleidet seine Kritik an der DDR immer noch in ein Lenin-Zitat: Über den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung werde die Höhe der Arbeitsproduktivität entscheiden, habe Lenin gesagt – jene Produktivität, die man in der DDR eben nie ganz und irgendwann immer weniger erreichte. Weil "der Mann an der Drehmaschine" in der DDR zehn Prozent langsamer als ein Dreher bei Thyssenkrupp gearbeitet habe und die Angestellten 15 Prozent langsamer als im Westen, "die Schinderei war geringer, in vielen Bereichen". Und weil ein Betrieb allerhand mitfinanzieren musste, das mit dem Kerngeschäft gar nichts zu tun hatte: Bei ihm im Schwermaschinenkombinat Ernst Thälmann standen die Fußballer des 1. FC Magdeburg auf der Lohnliste, "die kannten den Betrieb gar nicht".
Für seinen Vortrag im Café Sibylle hat Netzmann bereits eine Einleitung gefunden, ein Zitat aus dem Film In Zeiten des abnehmenden Lichts, einer Familiengeschichte im Herbst der DDR. "In dem Film gibt es den Satz: 'Haben wir alles verdorben?' Das ist nachdenkenswert", sagt Netzmann, "den Satz würde ich auf mich beziehen. Da muss ich lange nachdenken und kann viele Antworten geben, aber mit Sicherheit keine einzige, kurze." Vielleicht liegt darin, dass viele Leute sich mit einer kurzen Antwort zufriedengeben, der Grund für das fortdauernde Nichtverstehen, das Nichtverstandenwerden zwischen Ost und West.
Im Café Sibylle, Karl-Marx-Allee 72, wenige Kilometer vom Alexanderplatz entfernt, ist man größtenteils unter sich. An diesem Tag ist Netzmann noch nicht dran mit dem Erzählen, er ist bloß Zuhörer, Teil eines kleinen Haufens von etwa 50 Leuten, die sich zu einem Vortrag über die Mikroelektronik in der DDR eingefunden haben. Um Netzmann herum sitzt eine Riege ehemaliger Generaldirektoren, Silberrücken in kurzen Hemdsärmeln, die Frauen in bunten Blusen. Man kennt sich, man zieht sich auf, freut sich, dass jemand nach einer Krankheit wieder dabei ist. Karl Nendel, DDR-Regierungsbeauftragter für den Bau des Ein-Megabit-Chips, eines Prestigeprojekts aus der Endzeit der DDR, stellt an dem Tag seine Autobiografie vor, deren Hauptstück von den Schwierigkeiten handelt, in der DDR die Anfänge der Digitalisierung nicht zu verpassen. Es geht um Reinräume in Jena, Reinstsilizium aus Nünchritz und von der Stasi besorgte Muster und Geräte aus dem nichtsozialistischen Ausland.
Zwei Filmstudentinnen aus Süddeutschland, geboren 1992 und 1995, filmen den Vortrag für ein Filmprojekt der Uni, ihnen kam die Veranstaltung gerade recht. Die beiden kennen die DDR allein aus Geschichtsbüchern, irgendwann in der elften oder zwölften Klasse befasst man sich damit: deutsche Teilung, Mauerbau, Mauertote, Mauerfall. Eine der beiden, aus der Gegend um den Bodensee, findet die Veranstaltung "megainteressant", aber vielleicht ist alles Besprochene auch einfach megalang her. Dann erzählt sie, sie habe im Laufe des Projekts einen Anwohner der Karl-Marx-Allee interviewt, der zu ihrer Überraschung manches an der DDR gar nicht so schlecht gefunden habe. Dass es so was auch gebe! Nicht so sehr schockierend ist das für sie, sondern einfach nur vollkommen unverständlich oder jedenfalls mit dem in der Schule Gelernten nicht zusammenzubringen.
Die Gesprächsrunde "Kombinatsdirektoren erzählen" gibt es seit 2012, begründet hat sie Katrin Rohnstock. 57 Jahre alt, in Jena geboren, sie nennt sich "Autobiografikerin", ein Beruf, den sie selbst erfunden hat, ihre Berliner Firma produziert Lebensgeschichten in Buchform. Slogan: "Ihr Leben als Buch". Wer es sich leisten kann, dem schreiben Rohnstock und ihre Mitarbeiter sein Leben auf. Die meisten der ehemaligen Wirtschaftslenker haben dafür nicht genug Geld.
Rohnstock trägt ein weites Kleid und dirigiert ihre Mitarbeiter durch ihr Büro in der Schönhauser Allee am Prenzlauer Berg. Dann isst sie mit allen zusammen an einem langen Tisch in einem Raum zu Mittag, der sonst auch als "Erzählsalon" genutzt wird. Auch die ehemaligen DDR-Bosse kommen hier öfter zusammen, um sich einander aus ihrem Leben zu erzählen. Rohnstock sagt: "Die Diskrepanz zwischen der öffentlichen Darstellung von DDR-Geschichte und dem, was ich selbst erlebt habe, hat mich wahnsinnig gemacht." Um die Geschichten retten zu können, ohne Buchauftrag und ohne öffentliche Gelder, hat sie die Gesprächsreihe der Kombinatsdirektoren erfunden. Und ja, sie ist der AfD sogar noch dankbar dafür, dass man jetzt gezwungen sei, sich damit auseinanderzusetzen, dass die DDR-Vergangenheit doch noch nicht vergangen sei.
Rohnstock sagt, es sei eine Frage des Selbstbewusstseins, sich überhaupt an das Thema Arbeit in der DDR heranzutrauen: "Man wird schief angeguckt, wenn man sagt, man beschäftigt sich mit DDR-Wirtschaft. Weil die meisten der Meinung sind, dass das Schmuddelkram ist." Aber dann habe sie 2007 Edgar Most für seine Biografie interviewt, der erst Vizepräsident der Staatsbank der DDR war und dann Mitglied der Geschäftsleitung der Deutschen Bank. "Hätte ich Most nicht kennengelernt", sagt Rohnstock, "der mit einer Kraft und Überzeugtheit davon gesprochen hat, was alles in der DDR geleistet wurde, hätte ich mich das nicht getraut."
Rohnstock weiß, dass viele jetzt denken: Aha, gewiss eine Ostalgikerin! Eine, die alles Schlechte und Gemeine der DDR vergessen will, um die zweite Diktatur auf deutschem Boden in leuchtend-bunten Farben zu malen. Und nicht: eine Geschichtensucherin und begeisterte Zuhörerin, die zu DDR-Zeiten selbst in der Opposition war, exmatrikuliert wurde und sich drei Jahre in der Produktion "bewähren" musste, bevor sie ihr Studium abschließen durfte.
Rohnstock sagt, sie selbst habe die Geschichte ihres Vaters aufschreiben lassen, fünf Jahre nach der Gründung ihrer Firma. Weil sie gemerkt habe, "ich muss diese Geschichte kennen, um innerlich stabil zu sein. Indem ich sie mir erzählen ließ, habe ich sie mir angeeignet." Und weil sie "viel differenzierter und aus seiner Perspektive" habe hören können, wie sich die Dinge zugetragen haben, jenseits der Geschichtsklischees: die Familienkonflikte, die Vertreibung aus Schlesien, die Erfahrung, alles zu verlieren und in der neuen Heimat in Sonneberg in Thüringen nicht angenommen zu werden. "Ich sehe meinen Vater jetzt völlig anders als früher", sagt Rohnstock. Weniger urteilend. "Wenn er darüber sprach, wie schlimm es war, dass in Sonneberg an Weihnachten 1946 niemand die achtköpfige Flüchtlingsfamilie aufgenommen hatte, haben wir immer gesagt: 'Ja, aber die Deutschen waren doch schuld!' Aber was ist denn das für ein Schwachsinn? Wie kann man denn einem zehnjährigen Kind die Schuld dafür geben, dass Hitler den Krieg angefangen hat?"
Rohnstock hat versucht, bei der Bundesstiftung "Aufarbeitung der SED-Diktatur" eine Förderung für die Erzählungen der Kombinatsdirektoren zu bekommen. Doch die hätten nicht zu den Stiftungszielen gepasst. "Da geht es um Opfer, um Diktatur, um Ideologie, hier geht es um Erfahrungskompetenz, um Erfahrungswissen und die Potenziale der Ostdeutschen." Dabei hat sie sich für die Erzählungen der Generaldirektoren ja auch deshalb entschieden, weil diese als wirtschaftliche Führungselite wohl Teil des Systems, aber eben nicht Parteigranden waren. Rohnstock meint, viele Ostdeutsche seien, eigentlich schon seit der Wende, "mit den Medien" extrem unzufrieden – was auch ein Teil der Ursache für das Erstarken der AfD sei: "Die Ossis finden sich da überhaupt nicht wieder, ihre Geschichten kommen ja sowieso nicht vor."
Eine weitere dieser Geschichten ist die von Herbert Roloff. Auch er Generaldirektor wie Netzmann und wie dieser nicht nostalgisch und nicht verbittert. Roloff, 81, trägt wie Netzmann kein Taubenblau, nicht mehr jedenfalls, er unterscheidet sich optisch nicht von Westberliner Rentnern im Freizeitlook.
Roloff, gelernter Schiffsschlosser, ist braun gebrannt, mit Brille, weißgrauem Stoppelhaar, massiger Statur und rauer, raumfüllender Stimme. Zu Ostzeiten leitete Roloff den VEB Außenhandelsbetrieb Industrieanlagenimport. Er kaufte für DDR-Betriebe Chemieanlagen, Kernkraftwerke aus der Sowjetunion und Fabrikteile aus Japan oder der BRD. Reiste um die Welt und verhandelte. Den Mauerfall hat er in Japan erlebt, auf Auslandsreise mit einer Handelsdelegation, und rief gleich seine Frau an: "Sprich mit den Kindern", habe er ihr gesagt, "dass die nicht gleich nach West-Berlin gehen." Da habe die gemeint: "Beruhig dich, die waren doch schon längst dort."
Heute wohnt Roloff in Biesdorf-Nord, in einem Einfamilienhaus mit Vorgarten, zehn Kilometer vom Berliner Zentrum entfernt. Der Weg zu ihm führt durch Plattenbauviertel, blitzblank renoviert, als seien sie gerade erst hochgezogen worden. Dann, gleich danach, durch ein Industriegebiet, vorbei an der Allee der Kosmonauten, am Helene-Weigel-Platz, all die DDR-Namen sind noch da – bis man in einer Ostberliner Vormittagsruhe ankommt, wo allein die Rasenmäher und die Heckenscheren lärmen.
Roloff sondiert mit skeptischer Neugierde, in welche Geschichte er hier hineingestrickt werden soll. Er sagt: "Ich weiß ja nicht, was Ihre Absicht ist ...", verschränkt die Arme vor der Brust und guckt freundlich. Roloff ist Flüchtlingskind, mit neun Jahren kam er aus Stettin nach Ostdeutschland, im Schultornister das Wertvollste, das seine Familie besaß: eine versilberte Besteckgarnitur. Später hat er sich hinaufgearbeitet, vom Schiffsschlosserlehrling in einer Werft in Wismar über eine der Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten zum Generaldirektor eines Außenhandelsbetriebs mit drei, vier Milliarden Ostmark Umsatz im Jahr. Heute tue es ihm weh, sagt er, dass die Suchmaschine Google seinen ehemaligen Außenhandelsbetrieb nicht kenne und nichts dazu finde, "nicht mal die Abkürzung AHB".
Auch Roloff fragt sich, bevor er zu erzählen beginnt: "Will das denn noch jemand wissen?" Den eigenen Kindern brauche er von früher nicht zu erzählen, die wüssten das schon selbst noch genau. Und die Enkel interessierten sich nicht.
Vielleicht, sagt er, wolle erst die übernächste Generation die Hintergründe erkennen oder sich geschichtlich ein bisschen konstruktiver auseinandersetzen. Womit? Auch Roloff erzählt vom Stolz auf die Arbeit oder von den Beziehungen, die anders gewesen seien, offener. Wie er sich von der Politik der DDR zunehmend entfremdet habe. Wie man stundenlang um Formulierungen gefeilscht habe, etwa für die monatlichen Berichte an die Kreisleitung der Partei über die Situation im Betrieb, um Dinge kritisch, aber zugleich so dezent anzusprechen, "dass man nicht drei Tage später eine Untersuchungskommission im Haus hatte, die dann nur Unsinn angestellt hätte". Oder von den "postfaktischen" Verhältnissen, die es damals schon gegeben habe. Zum Beispiel wenn irgendwo etwas schiefgelaufen war und die Beratungen dazu so abliefen: "Man musste die heiße Kartoffel rumreichen, alle saßen da mit geneigtem Kopf und schrieben eifrig in ihre Hefte, um nur ja keinen Blickkontakt zum Sitzungsleiter zu riskieren."
Einmal, sagt Roloff, habe er für ein neues Werk eines Mikroelektronikkombinats hochlegierte Rohrleitungen importieren müssen. "Bei einer Beratung zum Stand der Arbeiten hieß es, ihr seid im Rückstand, die Rohre sind noch nicht da. Da gab ich zu bedenken, dass das Gebäude, in das die Rohre eingebaut werden sollten, noch gar nicht stand. Worauf der zuständige Minister sagte: Nehmen Sie ins Protokoll, Genosse Roloff sabotiert das Projekt. Das war ja schon in gewissem Sinne postfaktisch."
Den Erzählungen von Herbert Roloff und den anderen Generaldirektoren fehlt die Dramatik, gewiss. Roloff hat nicht gelitten in und an der DDR, ist nicht drangsaliert und verfolgt worden. Doch dass er da sitze, sagt er, dass er überhaupt erzählen könne, habe "nicht unwesentlich" mit Glück zu tun, etwa dem Glück, wieder auf die Füße gefallen zu sein. Nachdem die Treuhand entschieden hatte, den Außenhandelsbetrieb aufzulösen, und sich Roloffs Plan zerschlug, ihn als Berlin-Brandenburgische Handelsgesellschaft weiterzuführen, wurde er bei einer amerikanischen Firma für den ostdeutschen Markt angeheuert. Er gründete sein eigenes Unternehmen, importierte und exportierte, vor allem nach Russland, genauer nach Westsibirien, "wenn Ihnen Chanty-Mansijsk was sagt". Andere DDR-Manager hätten gekämpft, sich abgestrampelt wie er, aber ohne Erfolg. Manche seien verzweifelt, dem Alkohol verfallen, hätten sich aufgehängt.
Roloff sitzt in seinem Arbeitszimmer in Biesdorf-Nord, er ist immer noch verheiratet mit seiner Frau, die er während des Studiums kennenlernte, und stellt sich die Frage, ob es etwas gibt, das es wert wäre, weitergegeben zu werden.
Einmal im Jahr trifft er sich mit seiner ehemaligen Belegschaft aus dem Außenhandelsbetrieb, im November ist es wieder so weit. Von den ursprünglich 500 Mitarbeitern kamen bei den ersten Treffen vor neun Jahren noch 300, heute sind bloß noch um die 80 übrig. "Wenn man überhaupt was bewahren will", sagt Roloff, "wäre es jetzt die Zeit, das zu tun."
Zum ersten Zusammentreffen habe seine frühere Stellvertreterin nicht mitkommen wollen, weil sie dachte, sie müsste sich vielleicht rechtfertigen, dafür, dass sich jemand früher ungerecht behandelt fühlte. Andere warnten ihn, "da wirst du dir ja was anhören können!" Es gab dann aber keine Vorwürfe, im Gegenteil: Er sei "ganz euphorisch davongeflogen, als es zu Ende war. Nachdem heute alle ihre eigenen Erfahrungen in Betrieben in einer neuen Gesellschaftsordnung gemacht haben, sagen sie, was waren wir doch für ein toller Haufen. Unsere Arbeit hat uns Spaß gemacht. Und wenn wir uns sehen, das ist die Freundlichkeit und Freude in Person."
Früher, sagt Roloff, sei er als Leiter eines Betriebes "praktisch für alles verantwortlich gewesen", auch für die "sozialen Bedingungen" der Angestellten, bis hin zur Küche, zu den Bestecken. In seinem Betrieb sei einmal innerhalb eines Jahres eine ganze Edelstahlgarnitur von 500 Bestecken verschwunden. Da habe er beschlossen: "Na gut, dann kauft halt Aluminiumbestecke. Aber da kam die Gewerkschaft, was für eine Sauerei, es gab einen Riesenprotest!"
Roloff räumt ein, es sei "eine Portion Opportunismus" dabei gewesen, wenn er manches duldete oder Auseinandersetzungen scheute, obwohl er sah, was falsch lief. Er redet von der Angst um den sozialen Status, die ihn davor bewahrt habe, die richtigen Dinge am falschen Ort zu sagen: Er habe sich "auskotzen können" bei Freunden und Vertrauten, aber er konnte manches eben nicht öffentlich aussprechen.
Und dann sagt er, er habe seine Arbeit in der DDR und für die DDR geliebt. Ist es eine Überforderung, beides zusammenzudenken: die Diktatur und die Menschen, die ihre Arbeit aus Leidenschaft machten? Freiheit in der Unfreiheit, Selbstverwirklichung à la DDR und ein anderes Arbeiten, als die Nachgeborenen es kennen: mit Zwang zur Arbeit, aber ohne die Sorge, den Arbeitsplatz zu verlieren?
Roloff und die anderen Generaldirektoren sagen solche Dinge und erinnern sich dann wieder daran, dass sie Techniker sind, Ingenieure. Sie debattieren weiter über Spezialfragen, werfen mit Zahlen um sich, sprechen vom Brennstoffgehalt der Braunkohle, von der die DDR abhängig war, ihrer Flözstärke, vom Handelsembargo und wer genau und wodurch die DDR an die Wand gefahren habe.
Je länger man den ehemaligen Wirtschaftsbossen zuhört, desto entspannter wirken sie, und die Erzählungen werden ungeschönter. Und die eigenen Reaktionen weniger reflexhaft. Mit der Stasi, zum Beispiel, diesen unschönen zwei Silben, auf die sich für viele das ganze Unrecht der DDR reduziert, hatten Generaldirektoren zwangsläufig zu tun – bei allem, was Kontakt mit dem Ausland, Reisen von Angestellten und die "Sicherheit" im Allgemeinen betraf. Aber: Generaldirektoren volkseigener Betriebe durften, so sagt Rohnstock, und so gibt es auch die Stasi-Unterlagen-Behörde an, prinzipiell nicht als inoffizielle Mitarbeiter der Stasi angeworben werden. Sie hatten ja schon offiziell in ihrer Funktion mit dem MfS zu tun.
Ungeschönt ist auch das Bild, das Uwe Trostel von der Planwirtschaft in der DDR zeichnet. Weil er eben diese Wirtschaft selbst mit geplant hat: als "Leiter der Inspektion für Investitionen der Staatlichen Plankommission" und stellvertretender Minister in der letzten DDR-Regierung. Trostel ist 75, groß gewachsen, braun gebrannt mit weißem Stoppelhaar, noch so ein Techniker, ein Schachspieler. Er spricht mit sonorer, fester Stimme und Thüringer Akzent, er hat zugleich etwas altmodisch Jungenhaftes an sich. Man kann ihn sich als sudetendeutsches Vertriebenenkind in Haselbach vorstellen, einem Dorf in Thüringen, wo er mit seiner Mutter nach dem Zweiten Weltkrieg lebte, "wahrscheinlich waren wir im Dorf mit die Ärmsten".
Für jemanden wie Trostel, der Einblick in die harten Zahlen hatte, war es spätestens seit Anfang der Achtzigerjahre absehbar, "dass wir das wirtschaftlich mehr und mehr an den Baum fahren, dass wir auf Pump leben, dass wir Konsumgüter, die wir eigentlich im Inland brauchten, im Ausland billig verkaufen müssen, dass die vorgesehen Wachstumstempi nicht mehr erreicht werden können" – Trostel könnte die Liste beliebig fortsetzen.
Er habe immer gehofft, sagt er, "dass mal einer an die Spitze kommt, der was versteht". Aber als das endlich geschah, sei es schon zu spät gewesen. Die Bezirksleiter der Partei, "die hatten unheimliche Macht, wie Sonnenkönige, und sie waren zugleich ökonomisch fast durchgehend ungebildet. Die dachten, wenn sie was bestimmen, dann passiert das von allein."
Heute leitet Trostel die Schach-AG an einer Grundschule in Berlin, er hat ja Zeit, sagt er, und besser, als vor dem Fernseher zu dösen, sei es allemal.
Aus demselben Grund engagiert er sich in einem Verein, der die Reihe "Kombinatsdirektoren erzählen" mit Katrin Rohnstock zusammen organisiert. Weil er die Zeit, die er miterlebt hat, von anderen nie so reflektiert sehe, wie er selbst sie erinnert. "Wenn ich in Bücher gucke", sagt er, "frage ich mich manchmal, worüber schreiben die denn? Die schreiben zwar über meine Geschichte, aber ich erkenne mich darin gar nicht wieder, im Extremfall."
Zum Beispiel, sagt Trostel, hätten die Leute, anders als man sich das heute so vorstelle, in den Betrieben "über alles gemeckert" und kein Blatt vor den Mund genommen. "Damals bei der Plankommission musste ich ja viel raus in die Betriebe", erzählt Trostel. "Einmal bin ich im Textilmaschinenbaukombinat Chemnitz mit dem stellvertretenden Generaldirektor durch den Betrieb gelaufen, da sagte der: 'Was sich hier so entwickelt, das kann man überhaupt niemandem mehr erklären! Früher hat sich ein Arbeiter, wenn er zu spät kam, vorbeigeschlichen, damit der Meister es nicht merkt. Wenn heute einer zu spät kommt, dann schleicht der Meister sich weg, damit er ihn nicht kritisieren muss. Weil der sonst zur Gewerkschaft läuft und sich beschwert, und am Ende kriegt der Meister einen drauf.'"
Trostel, der der DDR nicht nachweint, sagt auch: "Das Erstaunliche ist ja: Wenn Sie in der DDR laut gegen den Staat geschimpft haben, dann hatten Sie den Staat im Nacken. Aber wenn Sie Missstände im Betrieb kritisiert haben, dann ist Hinz und Kunz gelaufen, um die Missstände abzubauen. Heute ist es genau umgekehrt: Sie können auf den Staat schimpfen, wie Sie wollen, aber im Betrieb zu meckern kann am Ende die Existenz kosten."
Dabei war Trostel als sudetendeutscher Vertriebener ursprünglich ein "radikaler Antikommunist" und Anhänger des "goldenen Westens", sagt er. Aber als Kind habe er einen Vorteil gehabt: Er habe "ganz gut gelernt in der Schule". In der achten Klasse hätten sich bei seiner Mutter der Bürgermeister des Ortes angekündigt, der Schuldirektor und sein Klassenlehrer. "Meine Mutter hat gefragt: 'Hast du was ausgefressen? Warum kommen die denn?' Sie erklärten meiner Mutter: 'Der Junge lernt gut, Sie sind Arbeiterin, und wir brauchen eine neue Intelligenz, die aus der Arbeiterklasse kommt.' Das haben sie wirklich so gesagt, ihr Sohn müsse weiter auf die Schule gehen und Abitur machen."
Also geht Trostel auf die Mittelschule, lernt Industriekaufmann in einer Nähmaschinenfabrik, besucht die Fach- und Hochschule, arbeitet dann beim Rat des Bezirks in Magdeburg. So geht es immer weiter, bis hinauf zum stellvertretenden Minister. Trostel sagt, er habe so etwas wie ein "Schlüsselerlebnis" gehabt. Hatte gerade angefangen beim Rat in Magdeburg, als er in einer Sitzung miterlebte, "wie dort der Vorsitzende die Ratsmitglieder abkanzelte und sich alle rechtfertigen mussten, weil es in einem kleinen Kaff im Kreis Haldensleben seit einer Woche kein Brot mehr gab. Der Bäcker war gestorben, die Belieferung der HO-Verkaufsstelle aus der Großbäckerei in der Kreisstadt hatte nicht geklappt, weil zwei Lieferwagen kaputt waren, und nun mussten sich alle vom Ratsvorsitzenden anhören, wie sie damit den Sozialismus sabotierten. Das hat mich beeindruckt, dass ein Spitzenfunktionär sich um die Brotversorgung in so einem Kaff kümmert. Da wohnten ganz wenige Leute, heute ist da längst kein Geschäft mehr."
Trostel war dann bei der Treuhand, als dort von Privatisierung noch keine Rede war. Später war er Berater bei einem westdeutschen Consultingunternehmen, als es nur noch darum ging, DDR-Betriebe abzuwickeln – und schließlich in Russland, wo die Ostdeutschen ihre eben erworbenen Erfahrungen mit der Privatisierung von Volkseigentum weitergeben sollten. In der Consultingfirma arbeiteten in den Neunzigerjahren in seiner Filiale nur Ostdeutsche, während die Geschäftsführung aus Westdeutschen bestand. Letztere seien oft vorbeigekommen und jedes Mal erstaunt gewesen: "Was ihr für eine Atmosphäre untereinander habt, ihr helft euch gegenseitig, ihr steht füreinander ein, das kennen wir nicht!" Bei ihnen sei es das genaue Gegenteil, jeder versuche, ja kein Wissen weiterzugeben, damit er ein Monopol drauf hat.
"Da ist viel dran", sagt Trostel.
Die Runden im Café Sibylle, in denen man derlei Dinge erzählen kann, und die Arbeit im Verein seien gewiss "keine weltbewegende Geschichte". Eher "ein ganz winziger, vielleicht bedeutungsloser Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte der DDR". Aber er will die Zeitzeugen, die noch am Leben sind, zu Wort kommen lassen.
Das sei wichtig, trotz allem. Als Sudetendeutscher bereue er es heute zutiefst, seine Mutter nicht gefragt zu haben, wie das damals war, vor der Vertreibung nach Ostdeutschland, währenddessen und danach. "Die Toten kann ich nicht mehr fragen. Ich kann ja nachlesen, aber das persönliche Gespräch mit Leuten, die es erlebt haben, ist nicht zu ersetzen." Nur, Trostel weiß auch, dass manche, die auch nicht unrecht hätten, sagten: "Wen interessiert das schon? Kein Schwein."
Trostel trifft sich heute außer mit den Generaldirektoren auch noch einmal im Jahr mit seinen Kumpels von der Fachschule, mit den Arbeitskollegen aus Magdeburg und denen aus seiner Zeit als Berater. Neulich hätten sie sich gefragt, wie lange sie das eigentlich noch fortführen würden. Da habe einer geantwortet: "Solange noch zwei von uns übrig sind", sagt Trostel und lacht.
Als Eckhard Netzmann seinen Vortrag im Café Sybille hält, ist auch Uwe Trostel im Publikum, an die 70 Zuhörer sind gekommen. Netzmann spricht über die Rolle des Anlagenbaus "in der DDR, im Sozialismus und weltweit", er erzählt von Zementwerken in Äthiopien, Syrien, Ägypten und Kuba. Die Rede hat er in fünf Punkte gegliedert, genau 45 Minuten nimmt er sich Zeit, anschließend muss er viele Fragen beantworten. Hinterher sagt er: "Ich gestehe, dass ich sehr zufrieden war." Es sei aber sein letzter großer Vortrag gewesen, das Ganze war einfach zu viel Arbeit.
Inzwischen hat Netzmann schon ein neues Projekt. Im November wird er eine Diskussion moderieren, zur Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit der Planwirtschaft. Man höre ja immer, Planwirtschaft sei Misswirtschaft, sagt Netzmann. Er aber findet, ein bisschen mehr Planung im Bau von Schulen oder in der Lehrerausbildung, bei der Energiewende oder im Berliner Flughafenbau wäre gar keine so schlechte Idee.
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Foto Ina Schoenenburg |
Zuerst veröffentlicht im ZEITmagazin, 20.09.2018
Eckhard Netzmann ist erst in ein paar Monaten dran mit seinem Vortrag, aber er hat schon jetzt schlaflose Nächte, dreht sich hin und her, überlegt, was er berichten soll. "Wenn Sie wüssten, wie viele Stunden ich schon wach gelegen habe", sagt er. "Aber bis jetzt ist noch nichts Substanzielles rausgekommen." Er zweifelt nicht nur daran, dass er etwas Gehaltvolles zu sagen hat, sondern auch daran, dass ihn jemand hören will.
Denn Netzmann, 79 Jahre alt, gelernter Werkzeugschlosser, heute Unternehmensberater, war einer der ganz Großen im Wirtschaftsleben der DDR: Generaldirektor des VEB Schwermaschinenkombinats Ernst Thälmann, dann des VEB Zementanlagen Dessau, schließlich stellvertretender Minister für Anlagenbau, Regierungsbevollmächtigter, Sonderbeauftragter. Zementwerke hat er gebaut, Dampfkessel, riesige Schwerindustrieanlagen aus der DDR in die ganze Welt exportiert. "Anlagenbau, das hat mit Maschinenbau nichts zu tun", sagt Netzmann, "Anlagenbau, das ist was ganz anderes, Systemtheorie, Kybernetik ist das, Systemtheorie und Kybernetik."
Dabei will er nicht bloß erzählen, sondern etwas sagen, aus dem man eine Lehre ziehen könnte, wenn er demnächst "in der Sibylle" spricht, einem Café an der Karl-Marx-Allee in Berlin, das die DDR überdauert hat. Einmal im Monat trägt hier einer aus einer Runde von ehemaligen DDR-Wirtschaftslenkern vor. Spitzenmanager würde man sie heute nennen, früher hießen sie Kombinatsdirektoren, Wirtschaftskapitäne, "Genossen Generaldirektoren" in den VEB, den volkseigenen Betrieben.
Aber, fragt sich Netzmann, "wer will denn noch was hören von uns? Was palavern wir denn überhaupt noch? Das Prinzip ist ja, die Leute wollen das gar nicht wissen, was wir wussten und was wir konnten, die wollen vergessen, einen Schlussstrich ziehen."
Netzmann weiß, dass viele jetzt denken: Aha, gewiss ein system- und linientreuer, gleichgeschalteter DDR-Funktionär, Scherge der SED-Diktatur, Zahnrädchen des Unrechtsstaates. Und nicht, wie er es sieht: ein höchst erfolgreicher Wirtschaftslenker. Der Betriebe mit 20.000 Arbeiterinnen und Arbeitern dazu brachte, im sozialistischen Ausland und zum Teil sogar auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu sein. Oder: ein DDR-Spitzenmanager, der von sich behaupten kann, zweimal fristlos entlassen worden zu sein. Weil er angeeckt sei, sagt er, einmal 1983, auf Regierungsdelegation in Venezuela, und dann noch einmal, weil er einem SED-Parteifunktionär im Betrieb gekündigt habe.
Was soll Netzmann erzählen? Was kann er überhaupt berichten? Er will ja nicht die DDR verteidigen, reinwaschen, sich in Nostalgie ergehen, sagt er. Sondern darstellen, wie man in der DDR, trotz der DDR und ihretwegen gearbeitet, wie man "mit Redlichkeit und Ehrlichkeit Großes geleistet" hat, im Anlagenbau jedenfalls. Netzmann weiß, dass er eigentlich etwas Unmögliches will: über die DDR sprechen, über die Wirtschaft und das Arbeiten in der DDR, als gehöre nicht alles und jedes auf die Müllhalde der Geschichte, als sei die DDR nicht zu Recht gescheitert und es nicht wert, sich weiter mit ihr zu befassen: leere Regale, Autos aus Pappe, Stasi-Diktatur, aus und vorbei.
Aber wenn das alles wäre, das Wahre und Ganze, dann kippte man auch Netzmanns Leben mit aus. Wie er mit 14 von der Schule ging, weil die Eltern das Lehrgeld brauchten, 65 Mark Ost für die Familienkasse. Wie er mit 16 gelernter Werkzeugschlosser wurde, mit 20 schon Ingenieur. Wie er als "kleiner Technologe" anfing, sich hocharbeitete, bis zum Chef eines Walzwerks, all das fiele dem Vergessen anheim: die 18-Stunden-Tage, das Managen eines Kombinats mit 25.000 Arbeiterinnen und Arbeitern, als Generaldirektorengehalt das Dreifache des Durchschnittslohns im Betrieb.
Eckhard Netzmann, der in den Neunzigerjahren Vorstand der Ostberliner Kraftwerks- und Anlagenbau AG mit zuletzt 1500 Angestellten war, arbeitet heute als Unternehmensberater für ostdeutsche Textil- und Zementfirmen. Er empfängt im "Alten Fritz", deutsche Küche in einem DDR-Hochhaus am Alexanderplatz, wo er die Speisekarte auswendig kennt und einen zu einer halben "Wurstparade" einlädt, weil er sie allein nicht mehr schafft. Netzmann weiß, dass das, was er erzählen könnte, nicht gehört werden wird, solange die Gewinner-Verlierer-Geschichte über die BRD und die DDR allen Raum einnimmt, immer noch, 28 Jahre nach dem Untergang der DDR. Dabei will er die nicht beiseiteschieben, er hat sie ja selbst am eigenen Leib erlebt. Aber gibt es daneben nicht Platz für andere, für seine Geschichten?
Es sind, hört man ihm zu, Geschichten vom Arbeiten in der DDR. Vom Wirtschaften unter den Bedingungen des Ein-Parteien-Staats. Vom Managen riesiger Betriebe nach Plan, nicht nach Maßgabe des Profits. Wo man die Arbeiter nicht mit Geld motivierte oder, indem man mit Stellenabbau drohte. Sondern mit Agitprop, dem Stolz auf den Betrieb, dem betriebseigenen Kulturhaus, der Bibliothek, den Tanzgruppen, der Poliklinik. Mit dem Sommerurlaub in Zingst, die ganze Familie zwei Wochen für 30 Mark Ost. Oder mit der betriebseigenen Handballmannschaft, wie in Dessau, beim VEB Zementanlagenbau: "Fragen Sie nicht", sagt Netzmann, "wie viele Schiedsrichter ich bestochen habe, um die Mannschaft in der ersten Liga zu halten."
Es habe, sagt Netzmann, ein Vertrauensverhältnis gegeben, das mit der DDR verloren gegangen sei: "Wenn in meinem Betrieb jemand Schwächen hatte, dann habe ich den Brigadier zu mir geholt und gesagt: Du weißt, dass der Meier dieses oder jenes Problem hat, jetzt kümmert euch mal um den Meier. Können Sie sich vorstellen, dass heute jemand in einem Betrieb sagt, ihr habt da einen Alkoholiker, macht was? Den schmeißen die heute doch einfach raus. Ich konnte ihn nicht rausschmeißen, und ich wollte ihn ja auch nicht rausschmeißen."
Die Generaldirektoren erzählen die Geschichte der Arbeit in der DDR aus der Sicht von Vorgesetzten, von Managern, Unternehmensführern. Offiziell gab es ja keine Arbeitnehmer und keine Arbeitgeber, weil der Begriff des Arbeitgebers "das wirkliche Verhältnis zwischen Arbeitern und Kapitalisten auf den Kopf" stelle, wie es in einem Dokument aus dem "Staatsbürgerkundeunterricht" von 1964 heißt: Die Arbeiter gäben ihre Arbeit, die Kapitalisten nähmen sie sich, nicht umgekehrt. Wie das Geben und Nehmen aber in der DDR genau ablief, blieb im offiziellen Begriffspaar "Werktätige" und "Betrieb" ungesagt.
Netzmann spricht heute von "Engineering-Kapazität" und "Managementqualität", aber er kleidet seine Kritik an der DDR immer noch in ein Lenin-Zitat: Über den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung werde die Höhe der Arbeitsproduktivität entscheiden, habe Lenin gesagt – jene Produktivität, die man in der DDR eben nie ganz und irgendwann immer weniger erreichte. Weil "der Mann an der Drehmaschine" in der DDR zehn Prozent langsamer als ein Dreher bei Thyssenkrupp gearbeitet habe und die Angestellten 15 Prozent langsamer als im Westen, "die Schinderei war geringer, in vielen Bereichen". Und weil ein Betrieb allerhand mitfinanzieren musste, das mit dem Kerngeschäft gar nichts zu tun hatte: Bei ihm im Schwermaschinenkombinat Ernst Thälmann standen die Fußballer des 1. FC Magdeburg auf der Lohnliste, "die kannten den Betrieb gar nicht".
Für seinen Vortrag im Café Sibylle hat Netzmann bereits eine Einleitung gefunden, ein Zitat aus dem Film In Zeiten des abnehmenden Lichts, einer Familiengeschichte im Herbst der DDR. "In dem Film gibt es den Satz: 'Haben wir alles verdorben?' Das ist nachdenkenswert", sagt Netzmann, "den Satz würde ich auf mich beziehen. Da muss ich lange nachdenken und kann viele Antworten geben, aber mit Sicherheit keine einzige, kurze." Vielleicht liegt darin, dass viele Leute sich mit einer kurzen Antwort zufriedengeben, der Grund für das fortdauernde Nichtverstehen, das Nichtverstandenwerden zwischen Ost und West.
Im Café Sibylle, Karl-Marx-Allee 72, wenige Kilometer vom Alexanderplatz entfernt, ist man größtenteils unter sich. An diesem Tag ist Netzmann noch nicht dran mit dem Erzählen, er ist bloß Zuhörer, Teil eines kleinen Haufens von etwa 50 Leuten, die sich zu einem Vortrag über die Mikroelektronik in der DDR eingefunden haben. Um Netzmann herum sitzt eine Riege ehemaliger Generaldirektoren, Silberrücken in kurzen Hemdsärmeln, die Frauen in bunten Blusen. Man kennt sich, man zieht sich auf, freut sich, dass jemand nach einer Krankheit wieder dabei ist. Karl Nendel, DDR-Regierungsbeauftragter für den Bau des Ein-Megabit-Chips, eines Prestigeprojekts aus der Endzeit der DDR, stellt an dem Tag seine Autobiografie vor, deren Hauptstück von den Schwierigkeiten handelt, in der DDR die Anfänge der Digitalisierung nicht zu verpassen. Es geht um Reinräume in Jena, Reinstsilizium aus Nünchritz und von der Stasi besorgte Muster und Geräte aus dem nichtsozialistischen Ausland.
Zwei Filmstudentinnen aus Süddeutschland, geboren 1992 und 1995, filmen den Vortrag für ein Filmprojekt der Uni, ihnen kam die Veranstaltung gerade recht. Die beiden kennen die DDR allein aus Geschichtsbüchern, irgendwann in der elften oder zwölften Klasse befasst man sich damit: deutsche Teilung, Mauerbau, Mauertote, Mauerfall. Eine der beiden, aus der Gegend um den Bodensee, findet die Veranstaltung "megainteressant", aber vielleicht ist alles Besprochene auch einfach megalang her. Dann erzählt sie, sie habe im Laufe des Projekts einen Anwohner der Karl-Marx-Allee interviewt, der zu ihrer Überraschung manches an der DDR gar nicht so schlecht gefunden habe. Dass es so was auch gebe! Nicht so sehr schockierend ist das für sie, sondern einfach nur vollkommen unverständlich oder jedenfalls mit dem in der Schule Gelernten nicht zusammenzubringen.
Die Gesprächsrunde "Kombinatsdirektoren erzählen" gibt es seit 2012, begründet hat sie Katrin Rohnstock. 57 Jahre alt, in Jena geboren, sie nennt sich "Autobiografikerin", ein Beruf, den sie selbst erfunden hat, ihre Berliner Firma produziert Lebensgeschichten in Buchform. Slogan: "Ihr Leben als Buch". Wer es sich leisten kann, dem schreiben Rohnstock und ihre Mitarbeiter sein Leben auf. Die meisten der ehemaligen Wirtschaftslenker haben dafür nicht genug Geld.
Rohnstock trägt ein weites Kleid und dirigiert ihre Mitarbeiter durch ihr Büro in der Schönhauser Allee am Prenzlauer Berg. Dann isst sie mit allen zusammen an einem langen Tisch in einem Raum zu Mittag, der sonst auch als "Erzählsalon" genutzt wird. Auch die ehemaligen DDR-Bosse kommen hier öfter zusammen, um sich einander aus ihrem Leben zu erzählen. Rohnstock sagt: "Die Diskrepanz zwischen der öffentlichen Darstellung von DDR-Geschichte und dem, was ich selbst erlebt habe, hat mich wahnsinnig gemacht." Um die Geschichten retten zu können, ohne Buchauftrag und ohne öffentliche Gelder, hat sie die Gesprächsreihe der Kombinatsdirektoren erfunden. Und ja, sie ist der AfD sogar noch dankbar dafür, dass man jetzt gezwungen sei, sich damit auseinanderzusetzen, dass die DDR-Vergangenheit doch noch nicht vergangen sei.
Rohnstock sagt, es sei eine Frage des Selbstbewusstseins, sich überhaupt an das Thema Arbeit in der DDR heranzutrauen: "Man wird schief angeguckt, wenn man sagt, man beschäftigt sich mit DDR-Wirtschaft. Weil die meisten der Meinung sind, dass das Schmuddelkram ist." Aber dann habe sie 2007 Edgar Most für seine Biografie interviewt, der erst Vizepräsident der Staatsbank der DDR war und dann Mitglied der Geschäftsleitung der Deutschen Bank. "Hätte ich Most nicht kennengelernt", sagt Rohnstock, "der mit einer Kraft und Überzeugtheit davon gesprochen hat, was alles in der DDR geleistet wurde, hätte ich mich das nicht getraut."
Rohnstock weiß, dass viele jetzt denken: Aha, gewiss eine Ostalgikerin! Eine, die alles Schlechte und Gemeine der DDR vergessen will, um die zweite Diktatur auf deutschem Boden in leuchtend-bunten Farben zu malen. Und nicht: eine Geschichtensucherin und begeisterte Zuhörerin, die zu DDR-Zeiten selbst in der Opposition war, exmatrikuliert wurde und sich drei Jahre in der Produktion "bewähren" musste, bevor sie ihr Studium abschließen durfte.
Rohnstock sagt, sie selbst habe die Geschichte ihres Vaters aufschreiben lassen, fünf Jahre nach der Gründung ihrer Firma. Weil sie gemerkt habe, "ich muss diese Geschichte kennen, um innerlich stabil zu sein. Indem ich sie mir erzählen ließ, habe ich sie mir angeeignet." Und weil sie "viel differenzierter und aus seiner Perspektive" habe hören können, wie sich die Dinge zugetragen haben, jenseits der Geschichtsklischees: die Familienkonflikte, die Vertreibung aus Schlesien, die Erfahrung, alles zu verlieren und in der neuen Heimat in Sonneberg in Thüringen nicht angenommen zu werden. "Ich sehe meinen Vater jetzt völlig anders als früher", sagt Rohnstock. Weniger urteilend. "Wenn er darüber sprach, wie schlimm es war, dass in Sonneberg an Weihnachten 1946 niemand die achtköpfige Flüchtlingsfamilie aufgenommen hatte, haben wir immer gesagt: 'Ja, aber die Deutschen waren doch schuld!' Aber was ist denn das für ein Schwachsinn? Wie kann man denn einem zehnjährigen Kind die Schuld dafür geben, dass Hitler den Krieg angefangen hat?"
Rohnstock hat versucht, bei der Bundesstiftung "Aufarbeitung der SED-Diktatur" eine Förderung für die Erzählungen der Kombinatsdirektoren zu bekommen. Doch die hätten nicht zu den Stiftungszielen gepasst. "Da geht es um Opfer, um Diktatur, um Ideologie, hier geht es um Erfahrungskompetenz, um Erfahrungswissen und die Potenziale der Ostdeutschen." Dabei hat sie sich für die Erzählungen der Generaldirektoren ja auch deshalb entschieden, weil diese als wirtschaftliche Führungselite wohl Teil des Systems, aber eben nicht Parteigranden waren. Rohnstock meint, viele Ostdeutsche seien, eigentlich schon seit der Wende, "mit den Medien" extrem unzufrieden – was auch ein Teil der Ursache für das Erstarken der AfD sei: "Die Ossis finden sich da überhaupt nicht wieder, ihre Geschichten kommen ja sowieso nicht vor."
Eine weitere dieser Geschichten ist die von Herbert Roloff. Auch er Generaldirektor wie Netzmann und wie dieser nicht nostalgisch und nicht verbittert. Roloff, 81, trägt wie Netzmann kein Taubenblau, nicht mehr jedenfalls, er unterscheidet sich optisch nicht von Westberliner Rentnern im Freizeitlook.
Roloff, gelernter Schiffsschlosser, ist braun gebrannt, mit Brille, weißgrauem Stoppelhaar, massiger Statur und rauer, raumfüllender Stimme. Zu Ostzeiten leitete Roloff den VEB Außenhandelsbetrieb Industrieanlagenimport. Er kaufte für DDR-Betriebe Chemieanlagen, Kernkraftwerke aus der Sowjetunion und Fabrikteile aus Japan oder der BRD. Reiste um die Welt und verhandelte. Den Mauerfall hat er in Japan erlebt, auf Auslandsreise mit einer Handelsdelegation, und rief gleich seine Frau an: "Sprich mit den Kindern", habe er ihr gesagt, "dass die nicht gleich nach West-Berlin gehen." Da habe die gemeint: "Beruhig dich, die waren doch schon längst dort."
Heute wohnt Roloff in Biesdorf-Nord, in einem Einfamilienhaus mit Vorgarten, zehn Kilometer vom Berliner Zentrum entfernt. Der Weg zu ihm führt durch Plattenbauviertel, blitzblank renoviert, als seien sie gerade erst hochgezogen worden. Dann, gleich danach, durch ein Industriegebiet, vorbei an der Allee der Kosmonauten, am Helene-Weigel-Platz, all die DDR-Namen sind noch da – bis man in einer Ostberliner Vormittagsruhe ankommt, wo allein die Rasenmäher und die Heckenscheren lärmen.
Roloff sondiert mit skeptischer Neugierde, in welche Geschichte er hier hineingestrickt werden soll. Er sagt: "Ich weiß ja nicht, was Ihre Absicht ist ...", verschränkt die Arme vor der Brust und guckt freundlich. Roloff ist Flüchtlingskind, mit neun Jahren kam er aus Stettin nach Ostdeutschland, im Schultornister das Wertvollste, das seine Familie besaß: eine versilberte Besteckgarnitur. Später hat er sich hinaufgearbeitet, vom Schiffsschlosserlehrling in einer Werft in Wismar über eine der Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten zum Generaldirektor eines Außenhandelsbetriebs mit drei, vier Milliarden Ostmark Umsatz im Jahr. Heute tue es ihm weh, sagt er, dass die Suchmaschine Google seinen ehemaligen Außenhandelsbetrieb nicht kenne und nichts dazu finde, "nicht mal die Abkürzung AHB".
Auch Roloff fragt sich, bevor er zu erzählen beginnt: "Will das denn noch jemand wissen?" Den eigenen Kindern brauche er von früher nicht zu erzählen, die wüssten das schon selbst noch genau. Und die Enkel interessierten sich nicht.
Vielleicht, sagt er, wolle erst die übernächste Generation die Hintergründe erkennen oder sich geschichtlich ein bisschen konstruktiver auseinandersetzen. Womit? Auch Roloff erzählt vom Stolz auf die Arbeit oder von den Beziehungen, die anders gewesen seien, offener. Wie er sich von der Politik der DDR zunehmend entfremdet habe. Wie man stundenlang um Formulierungen gefeilscht habe, etwa für die monatlichen Berichte an die Kreisleitung der Partei über die Situation im Betrieb, um Dinge kritisch, aber zugleich so dezent anzusprechen, "dass man nicht drei Tage später eine Untersuchungskommission im Haus hatte, die dann nur Unsinn angestellt hätte". Oder von den "postfaktischen" Verhältnissen, die es damals schon gegeben habe. Zum Beispiel wenn irgendwo etwas schiefgelaufen war und die Beratungen dazu so abliefen: "Man musste die heiße Kartoffel rumreichen, alle saßen da mit geneigtem Kopf und schrieben eifrig in ihre Hefte, um nur ja keinen Blickkontakt zum Sitzungsleiter zu riskieren."
Einmal, sagt Roloff, habe er für ein neues Werk eines Mikroelektronikkombinats hochlegierte Rohrleitungen importieren müssen. "Bei einer Beratung zum Stand der Arbeiten hieß es, ihr seid im Rückstand, die Rohre sind noch nicht da. Da gab ich zu bedenken, dass das Gebäude, in das die Rohre eingebaut werden sollten, noch gar nicht stand. Worauf der zuständige Minister sagte: Nehmen Sie ins Protokoll, Genosse Roloff sabotiert das Projekt. Das war ja schon in gewissem Sinne postfaktisch."
Den Erzählungen von Herbert Roloff und den anderen Generaldirektoren fehlt die Dramatik, gewiss. Roloff hat nicht gelitten in und an der DDR, ist nicht drangsaliert und verfolgt worden. Doch dass er da sitze, sagt er, dass er überhaupt erzählen könne, habe "nicht unwesentlich" mit Glück zu tun, etwa dem Glück, wieder auf die Füße gefallen zu sein. Nachdem die Treuhand entschieden hatte, den Außenhandelsbetrieb aufzulösen, und sich Roloffs Plan zerschlug, ihn als Berlin-Brandenburgische Handelsgesellschaft weiterzuführen, wurde er bei einer amerikanischen Firma für den ostdeutschen Markt angeheuert. Er gründete sein eigenes Unternehmen, importierte und exportierte, vor allem nach Russland, genauer nach Westsibirien, "wenn Ihnen Chanty-Mansijsk was sagt". Andere DDR-Manager hätten gekämpft, sich abgestrampelt wie er, aber ohne Erfolg. Manche seien verzweifelt, dem Alkohol verfallen, hätten sich aufgehängt.
Roloff sitzt in seinem Arbeitszimmer in Biesdorf-Nord, er ist immer noch verheiratet mit seiner Frau, die er während des Studiums kennenlernte, und stellt sich die Frage, ob es etwas gibt, das es wert wäre, weitergegeben zu werden.
Einmal im Jahr trifft er sich mit seiner ehemaligen Belegschaft aus dem Außenhandelsbetrieb, im November ist es wieder so weit. Von den ursprünglich 500 Mitarbeitern kamen bei den ersten Treffen vor neun Jahren noch 300, heute sind bloß noch um die 80 übrig. "Wenn man überhaupt was bewahren will", sagt Roloff, "wäre es jetzt die Zeit, das zu tun."
Zum ersten Zusammentreffen habe seine frühere Stellvertreterin nicht mitkommen wollen, weil sie dachte, sie müsste sich vielleicht rechtfertigen, dafür, dass sich jemand früher ungerecht behandelt fühlte. Andere warnten ihn, "da wirst du dir ja was anhören können!" Es gab dann aber keine Vorwürfe, im Gegenteil: Er sei "ganz euphorisch davongeflogen, als es zu Ende war. Nachdem heute alle ihre eigenen Erfahrungen in Betrieben in einer neuen Gesellschaftsordnung gemacht haben, sagen sie, was waren wir doch für ein toller Haufen. Unsere Arbeit hat uns Spaß gemacht. Und wenn wir uns sehen, das ist die Freundlichkeit und Freude in Person."
Früher, sagt Roloff, sei er als Leiter eines Betriebes "praktisch für alles verantwortlich gewesen", auch für die "sozialen Bedingungen" der Angestellten, bis hin zur Küche, zu den Bestecken. In seinem Betrieb sei einmal innerhalb eines Jahres eine ganze Edelstahlgarnitur von 500 Bestecken verschwunden. Da habe er beschlossen: "Na gut, dann kauft halt Aluminiumbestecke. Aber da kam die Gewerkschaft, was für eine Sauerei, es gab einen Riesenprotest!"
Roloff räumt ein, es sei "eine Portion Opportunismus" dabei gewesen, wenn er manches duldete oder Auseinandersetzungen scheute, obwohl er sah, was falsch lief. Er redet von der Angst um den sozialen Status, die ihn davor bewahrt habe, die richtigen Dinge am falschen Ort zu sagen: Er habe sich "auskotzen können" bei Freunden und Vertrauten, aber er konnte manches eben nicht öffentlich aussprechen.
Und dann sagt er, er habe seine Arbeit in der DDR und für die DDR geliebt. Ist es eine Überforderung, beides zusammenzudenken: die Diktatur und die Menschen, die ihre Arbeit aus Leidenschaft machten? Freiheit in der Unfreiheit, Selbstverwirklichung à la DDR und ein anderes Arbeiten, als die Nachgeborenen es kennen: mit Zwang zur Arbeit, aber ohne die Sorge, den Arbeitsplatz zu verlieren?
Roloff und die anderen Generaldirektoren sagen solche Dinge und erinnern sich dann wieder daran, dass sie Techniker sind, Ingenieure. Sie debattieren weiter über Spezialfragen, werfen mit Zahlen um sich, sprechen vom Brennstoffgehalt der Braunkohle, von der die DDR abhängig war, ihrer Flözstärke, vom Handelsembargo und wer genau und wodurch die DDR an die Wand gefahren habe.
Je länger man den ehemaligen Wirtschaftsbossen zuhört, desto entspannter wirken sie, und die Erzählungen werden ungeschönter. Und die eigenen Reaktionen weniger reflexhaft. Mit der Stasi, zum Beispiel, diesen unschönen zwei Silben, auf die sich für viele das ganze Unrecht der DDR reduziert, hatten Generaldirektoren zwangsläufig zu tun – bei allem, was Kontakt mit dem Ausland, Reisen von Angestellten und die "Sicherheit" im Allgemeinen betraf. Aber: Generaldirektoren volkseigener Betriebe durften, so sagt Rohnstock, und so gibt es auch die Stasi-Unterlagen-Behörde an, prinzipiell nicht als inoffizielle Mitarbeiter der Stasi angeworben werden. Sie hatten ja schon offiziell in ihrer Funktion mit dem MfS zu tun.
Ungeschönt ist auch das Bild, das Uwe Trostel von der Planwirtschaft in der DDR zeichnet. Weil er eben diese Wirtschaft selbst mit geplant hat: als "Leiter der Inspektion für Investitionen der Staatlichen Plankommission" und stellvertretender Minister in der letzten DDR-Regierung. Trostel ist 75, groß gewachsen, braun gebrannt mit weißem Stoppelhaar, noch so ein Techniker, ein Schachspieler. Er spricht mit sonorer, fester Stimme und Thüringer Akzent, er hat zugleich etwas altmodisch Jungenhaftes an sich. Man kann ihn sich als sudetendeutsches Vertriebenenkind in Haselbach vorstellen, einem Dorf in Thüringen, wo er mit seiner Mutter nach dem Zweiten Weltkrieg lebte, "wahrscheinlich waren wir im Dorf mit die Ärmsten".
Für jemanden wie Trostel, der Einblick in die harten Zahlen hatte, war es spätestens seit Anfang der Achtzigerjahre absehbar, "dass wir das wirtschaftlich mehr und mehr an den Baum fahren, dass wir auf Pump leben, dass wir Konsumgüter, die wir eigentlich im Inland brauchten, im Ausland billig verkaufen müssen, dass die vorgesehen Wachstumstempi nicht mehr erreicht werden können" – Trostel könnte die Liste beliebig fortsetzen.
Er habe immer gehofft, sagt er, "dass mal einer an die Spitze kommt, der was versteht". Aber als das endlich geschah, sei es schon zu spät gewesen. Die Bezirksleiter der Partei, "die hatten unheimliche Macht, wie Sonnenkönige, und sie waren zugleich ökonomisch fast durchgehend ungebildet. Die dachten, wenn sie was bestimmen, dann passiert das von allein."
Heute leitet Trostel die Schach-AG an einer Grundschule in Berlin, er hat ja Zeit, sagt er, und besser, als vor dem Fernseher zu dösen, sei es allemal.
Aus demselben Grund engagiert er sich in einem Verein, der die Reihe "Kombinatsdirektoren erzählen" mit Katrin Rohnstock zusammen organisiert. Weil er die Zeit, die er miterlebt hat, von anderen nie so reflektiert sehe, wie er selbst sie erinnert. "Wenn ich in Bücher gucke", sagt er, "frage ich mich manchmal, worüber schreiben die denn? Die schreiben zwar über meine Geschichte, aber ich erkenne mich darin gar nicht wieder, im Extremfall."
Zum Beispiel, sagt Trostel, hätten die Leute, anders als man sich das heute so vorstelle, in den Betrieben "über alles gemeckert" und kein Blatt vor den Mund genommen. "Damals bei der Plankommission musste ich ja viel raus in die Betriebe", erzählt Trostel. "Einmal bin ich im Textilmaschinenbaukombinat Chemnitz mit dem stellvertretenden Generaldirektor durch den Betrieb gelaufen, da sagte der: 'Was sich hier so entwickelt, das kann man überhaupt niemandem mehr erklären! Früher hat sich ein Arbeiter, wenn er zu spät kam, vorbeigeschlichen, damit der Meister es nicht merkt. Wenn heute einer zu spät kommt, dann schleicht der Meister sich weg, damit er ihn nicht kritisieren muss. Weil der sonst zur Gewerkschaft läuft und sich beschwert, und am Ende kriegt der Meister einen drauf.'"
Trostel, der der DDR nicht nachweint, sagt auch: "Das Erstaunliche ist ja: Wenn Sie in der DDR laut gegen den Staat geschimpft haben, dann hatten Sie den Staat im Nacken. Aber wenn Sie Missstände im Betrieb kritisiert haben, dann ist Hinz und Kunz gelaufen, um die Missstände abzubauen. Heute ist es genau umgekehrt: Sie können auf den Staat schimpfen, wie Sie wollen, aber im Betrieb zu meckern kann am Ende die Existenz kosten."
Dabei war Trostel als sudetendeutscher Vertriebener ursprünglich ein "radikaler Antikommunist" und Anhänger des "goldenen Westens", sagt er. Aber als Kind habe er einen Vorteil gehabt: Er habe "ganz gut gelernt in der Schule". In der achten Klasse hätten sich bei seiner Mutter der Bürgermeister des Ortes angekündigt, der Schuldirektor und sein Klassenlehrer. "Meine Mutter hat gefragt: 'Hast du was ausgefressen? Warum kommen die denn?' Sie erklärten meiner Mutter: 'Der Junge lernt gut, Sie sind Arbeiterin, und wir brauchen eine neue Intelligenz, die aus der Arbeiterklasse kommt.' Das haben sie wirklich so gesagt, ihr Sohn müsse weiter auf die Schule gehen und Abitur machen."
Also geht Trostel auf die Mittelschule, lernt Industriekaufmann in einer Nähmaschinenfabrik, besucht die Fach- und Hochschule, arbeitet dann beim Rat des Bezirks in Magdeburg. So geht es immer weiter, bis hinauf zum stellvertretenden Minister. Trostel sagt, er habe so etwas wie ein "Schlüsselerlebnis" gehabt. Hatte gerade angefangen beim Rat in Magdeburg, als er in einer Sitzung miterlebte, "wie dort der Vorsitzende die Ratsmitglieder abkanzelte und sich alle rechtfertigen mussten, weil es in einem kleinen Kaff im Kreis Haldensleben seit einer Woche kein Brot mehr gab. Der Bäcker war gestorben, die Belieferung der HO-Verkaufsstelle aus der Großbäckerei in der Kreisstadt hatte nicht geklappt, weil zwei Lieferwagen kaputt waren, und nun mussten sich alle vom Ratsvorsitzenden anhören, wie sie damit den Sozialismus sabotierten. Das hat mich beeindruckt, dass ein Spitzenfunktionär sich um die Brotversorgung in so einem Kaff kümmert. Da wohnten ganz wenige Leute, heute ist da längst kein Geschäft mehr."
Trostel war dann bei der Treuhand, als dort von Privatisierung noch keine Rede war. Später war er Berater bei einem westdeutschen Consultingunternehmen, als es nur noch darum ging, DDR-Betriebe abzuwickeln – und schließlich in Russland, wo die Ostdeutschen ihre eben erworbenen Erfahrungen mit der Privatisierung von Volkseigentum weitergeben sollten. In der Consultingfirma arbeiteten in den Neunzigerjahren in seiner Filiale nur Ostdeutsche, während die Geschäftsführung aus Westdeutschen bestand. Letztere seien oft vorbeigekommen und jedes Mal erstaunt gewesen: "Was ihr für eine Atmosphäre untereinander habt, ihr helft euch gegenseitig, ihr steht füreinander ein, das kennen wir nicht!" Bei ihnen sei es das genaue Gegenteil, jeder versuche, ja kein Wissen weiterzugeben, damit er ein Monopol drauf hat.
"Da ist viel dran", sagt Trostel.
Die Runden im Café Sibylle, in denen man derlei Dinge erzählen kann, und die Arbeit im Verein seien gewiss "keine weltbewegende Geschichte". Eher "ein ganz winziger, vielleicht bedeutungsloser Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte der DDR". Aber er will die Zeitzeugen, die noch am Leben sind, zu Wort kommen lassen.
Das sei wichtig, trotz allem. Als Sudetendeutscher bereue er es heute zutiefst, seine Mutter nicht gefragt zu haben, wie das damals war, vor der Vertreibung nach Ostdeutschland, währenddessen und danach. "Die Toten kann ich nicht mehr fragen. Ich kann ja nachlesen, aber das persönliche Gespräch mit Leuten, die es erlebt haben, ist nicht zu ersetzen." Nur, Trostel weiß auch, dass manche, die auch nicht unrecht hätten, sagten: "Wen interessiert das schon? Kein Schwein."
Trostel trifft sich heute außer mit den Generaldirektoren auch noch einmal im Jahr mit seinen Kumpels von der Fachschule, mit den Arbeitskollegen aus Magdeburg und denen aus seiner Zeit als Berater. Neulich hätten sie sich gefragt, wie lange sie das eigentlich noch fortführen würden. Da habe einer geantwortet: "Solange noch zwei von uns übrig sind", sagt Trostel und lacht.
Als Eckhard Netzmann seinen Vortrag im Café Sybille hält, ist auch Uwe Trostel im Publikum, an die 70 Zuhörer sind gekommen. Netzmann spricht über die Rolle des Anlagenbaus "in der DDR, im Sozialismus und weltweit", er erzählt von Zementwerken in Äthiopien, Syrien, Ägypten und Kuba. Die Rede hat er in fünf Punkte gegliedert, genau 45 Minuten nimmt er sich Zeit, anschließend muss er viele Fragen beantworten. Hinterher sagt er: "Ich gestehe, dass ich sehr zufrieden war." Es sei aber sein letzter großer Vortrag gewesen, das Ganze war einfach zu viel Arbeit.
Inzwischen hat Netzmann schon ein neues Projekt. Im November wird er eine Diskussion moderieren, zur Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit der Planwirtschaft. Man höre ja immer, Planwirtschaft sei Misswirtschaft, sagt Netzmann. Er aber findet, ein bisschen mehr Planung im Bau von Schulen oder in der Lehrerausbildung, bei der Energiewende oder im Berliner Flughafenbau wäre gar keine so schlechte Idee.